archivierte Ausgabe 4/2020 |
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Leseprobe 3 |
DOI: 10.14623/thq.2020.4.388–405 |
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Stephan Winter |
Gottesdienst im Pandemie-Modus |
Zu aktuell drängenden Anstößen für eine Liturgiewissenschaft, die „an der Zeit ist“ |
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1. Sich ein wenig der Abstraktion angleichen: Wenn Theologie praktisch wird …
In Die Pest ist der Arzt Dr. Rieux die zentrale Figur, die Camus sich am Ende des Romans als dessen Autor zu erkennen geben lässt. An einer Stelle wird eine Auseinandersetzung zwischen Rieux und dem Journalisten Rambert geschildert. Ausgangspunkt ist Rieux’ Weigerung, Rambert zu attestieren, nicht infiziert zu sein, damit er nach Paris zur von ihm geliebten Frau zurückkehren kann. Rieux bringt zum Ausdruck, dass er dieses Ansinnen verstehen könne; aber letztlich lasse sich niemals wirklich nachweisen, ob jemand bei einer etwaigen Ausreise nicht doch das Bazillus in sich trage, und es dürfe keine Ausnahmen geben: „Ich weiß wohl, daß diese Geschichte unsinnig ist, aber sie betrifft uns alle. Man muß sie nehmen, wie sie ist.“1 Rambert reagiert harsch: Rieux mangele es an Empathie, er spreche die „Sprache der Vernunft“ und sei „in der Abstraktion“ (ebd.), weshalb er einen entscheidenden Zusammenhang nicht sehe: Das „Wohl des Volkes setzt sich aus dem Glück der einzelnen Bürger zusammen.“ (58) – Nach dieser Begegnung reflektiert Rieux Ramberts Vorwurf:
„Rambert hatte recht mit seinem unbändigen Verlangen nach Glück. Aber hatte er auch recht, wenn er ihn anklagte? ‚Sie leben in der Abstraktion.‘ War das wirklich die Abstraktion, all die Tage, die er im Spital verbrachte, wo die Pest immer gefräßiger wurde und jede Woche durchschnittlich fünfhundert Opfer forderte? Ja, es gab in dem Elend einen Teil Abstraktion und Unwirklichkeit. Aber wenn die Abstraktion anfängt, einen zu töten, dann muß man sich wohl oder übel mit ihr beschäftigen. Und Rieux wußte nur, daß es nicht leicht war. […] Nach diesen aufreibenden Wochen […] verstand Rieux, daß er sich nicht mehr gegen das Mitleid wehren mußte. Man wird des Mitleids müde, wenn das Mitleid nutzlos ist. Zu fühlen, wie sein Herz sich allmählich in sich selbst verschloß, brachte Dr. Rieux während jener erdrückenden Tage die einzige Linderung. Er wußte, daß ihm dadurch seine Aufgabe erleichtert wurde. Deshalb freute er sich darüber. […] Um gegen die Abstraktion kämpfen zu können, muß man ihr ein wenig gleichen.“ (59. 61)
Aus Rieux’ Sicht geht es darum, „den trostlosen Kampf“ aufzunehmen, diesen Kampf, „der zwischen dem Glück jedes einzelnen Menschen und den Abstraktionen der Pest ausgetragen“ (61) wird. – Wichtige Grundzüge wissenschaftlicher Theologie, insofern sie praktisch wird, lassen sich vielleicht im Ausgang von dieser Textstelle beschreiben:
– in Situationen hineingehen und hineinhören, die Menschen qua ihres Menschseins gemeinsam existenziell betreffen; – aufzunehmen und strukturiert darzustellen suchen, wie Menschen diese Situationen ganz unterschiedlich wahrnehmen und gestalten; – das, was sich hier kondensiert (und damit einerseits konzentriert, andererseits in dieser Weise auch flüchtig) zeigt, mit Evangelium und Glaubenstraditionen in Dialog bringen (vgl. auch das vielfach rezipierte Theologoumenon von den „Zeichen der Zeit“, die „im Licht des Evangeliums zu deuten“ sind, in Gaudium et spes 4).
Ein zentrales Ziel ist, Handlungskriterien bzw. Handlungsmaximen zu gewinnen, die situativ zu richtigen, umfassend lebensförderlichen Entscheidungen befähigen – und dies alles, ohne am Ende „das Glück jedes einzelnen Menschen“ gering zu achten. Was Theologien, die in biblischer Tradition stehen, freilich gegenüber der Positionierung Dr. Rieux’ unterscheidet: Sie haben das Potenzial, die Trostlosigkeit, die dem Ringen um tragfähige Vermittlung zwischen Abstraktion und individuellem Glück eigen ist, zu teilen, und zugleich deutlich zu machen, dass diese Trostlosigkeit nicht alternativlos ist.2
Die Liturgiewissenschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Richtungen profiliert und ausdifferenziert.3 Ganz grob lässt sich von einer historischen, einer systematischen und einer praktisch-kritischen Dimension des Faches sprechen, die jedoch innerhalb der deutschsprachigen Liturgiewissenschaft und erst Recht in internationalen Kontexten unterschiedlich ausgestaltet und gewichtet werden. Im vorliegenden Aufsatz werden vom praktischen Zugang her drei Themenkomplexe, die das Fach grundsätzlich beschäftigen, im Ausgang von einer aktuellen Untersuchung liturgischer Praxis unter Pandemie-Bedingungen beleuchtet; von da aus werden jeweils die anderen beiden Dimensionen – über prägnante Positionsbestimmungen, teilweise auch nur über die Formulierung zentraler Fragen – wenigstens eingespielt. Dadurch sollen etwas die Konturen einer Liturgiewissenschaft hervortreten, die in mehrfacher Hinsicht ‚an der Zeit‘ ist: indem sie anstrebt, das rituell-gottesdienstliche Handeln von Menschen in Geschichte und Gegenwart, das in vielfältiger Weise eingebettet ist in biblisch-christliche Traditionsstränge und sozio-kulturelle Zusammenhänge, in enger Verzahnung mit den anderen theologischen Disziplinen und einschlägig tätigen Wissenschaften methodengeleitet zu rekonstruieren und zu reflektieren. Theologisch betrachtet überliefert sich genau in solchem symbolischen Handeln Gott selbst geistgewirkt ins Leben hinein.4
Anmerkungen
1 | Albert Camus, Die Pest, dt. Übers. von Guido G. Meister, Hamburg 1958, 58; dort auch die nächsten, nur mit Seitenzahlen ausgewiesenen Zitate. 2 | Nur exemplarisch seien aus den jüngeren, untereinander freilich wiederum ganz unterschiedlich akzentuierenden Konzeptionen, die speziell Praktische Theologie in etwa (auch) so verstehen, verwiesen auf: Norbert Mette, Einführung in die katholische Praktische Theologie, Darmstadt 2005; vgl. dort u. a. konzentriert 60f.; Rainer Bucher, Theologie im Risiko der Gegenwart: Studien zur kenotischen Existenz der Pastoraltheologie zwischen Universität, Kirche und Gesellschaft (Praktische Theologie heute 105), Stuttgart 2010. 3 | Vgl. z. B. Stephan Winter, Gottesdienst als Lebensform. Zu Profil und Methodik der Liturgiewissenschaft innerhalb des theologischen Fächerkanons, in: Benedikt Paul Göcke/Christian Pelz/Lukas Valentin Ohler (Hg.), Die Wissenschaftlichkeit der Theologie, Bd. 2: Katholische Disziplinen und ihre Wissenschaftstheorien (STEP 13/2), Münster 2019, 307–348, und von den aktuellen Überblicksdarstellungen auch Benedikt Kranemann, Liturgiewissenschaftliche Forschung „zwischen Tradition und Innovation“, in: Salvatore Loiero/François-Xavier Amherdt (Hg.), Theologie zwischen Tradition und Innovation. La théologie entre tradition et innovation. Interdisziplinäre Gespräche.Échanges interdisciplinaires (Théologie Pratique en Dialogue. Praktische Theologie im Dialog 50), Basel 2019, 85– 115. 4 | Vgl. zur Liturgie als geistgewirktes Überlieferungsgeschehen Reinhard Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, überarb. Aufl., Paderborn 2009, 27, und zum größeren Kontext 19–33. [...]
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