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Leseprobe 3 |
DOI: 10.14623/thq.2024.3.427–446 |
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Anton Friedrich Koch |
Was bleibt von Kants Moraltheologie? |
Eine kritische Diskussion vor dem Hintergrund klassischer Alternativen |
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Zusammenfassung Das Spezifikum von Kants Moralphilosophie, das ihm erlaubt, eine Moraltheologie mit ihr zu verbinden, ist die doppelte Einsicht, dass nichts Geringeres als reine Vernunft die Quelle des Freiheits- und Moralgesetzes ist und dass die Vernunft ohne eine Form von Moraltheologie in einen unlösbaren Selbstwiderspruch geriete. Der Vergleich mit anderen klassischen Ansätzen in Ethik und Religionsphilosophie (Aristoteles, Hegel, Fichte) lässt diesen Vorzug von Kants Moralphilosophie, aber auch die spezifischen Schwächen seiner Moraltheologie klar hervortreten. Die vergleichende Diskussion erlaubt es dann, Anforderungen an die Theoriebildung zu erkennen, die bei Kant Desiderate bleiben, und weist in die Richtung, in die zu schauen wäre, wenn sie erfüllt werden sollen. Dabei muss der Blick vor allem auf Fichte fallen.
Abstract The specific feature of Kant’s moral philosophy that allows him to combine it with a moral theology is the two-part insight that nothing less than pure reason is the source of the law of freedom and morality and that reason without some form of moral theology would come into an irresolvable contradiction with itself. A comparison with other classical approaches in ethics and in the philosophy of religion (Aristotle, Hegel, Fichte) reveals this advantage of Kant’s moral philosophy on the one hand, but also the specific weaknesses of his moral theology on the other. The comparative discussion then makes it possible to recognise requirements for theory formation that remain desiderata in Kant and points in the direction in which we should look if they are to be fulfilled. In doing so, the focus must primarily fall on Fichte.
Schlüsselwörter/Keywords Postulate der reinen Vernunft; Formen der eudaimonia; Formalismus und substanzielle Sittlichkeit; das ethische Gemeinwesen als Reich Gottes auf Erden; das selige Leben als Glück der Kontemplation Postulates of pure reason; forms of eudaimonia; formalism and the substance of ethical life; the ethical commonwealth as the kingdom of God on earth; the blissful life as the happiness of contemplation
1. Das praktische Grundgesetz als Basis der Vernunftreligion
An der Spitze der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten – Kants Metaethik und Ethik, wenn man so will – steht das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, der kategorische Imperativ, als Freiheitsgesetz. Dass die reine Vernunft den Willen bestimmen kann und dass die Ethik in die Metaphysik fällt, war nicht ohne weiteres zu erwarten und ist Grundlage dessen, dass eine veritable Philosophie der Religion im Unterschied zum philosophisch informierten Räsonieren über Religion und zur empirischen Religionswissenschaft überhaupt möglich ist. Die Religionsphilosophie taxiert die Religion nicht von außen, sondern entwickelt ihre Inhalte vom gedanklichen Ursprung der Religion aus, soweit die Inhalte sich „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ begründen lassen. Dass dies möglich ist, musste bzw. muss natürlich gezeigt werden. Kant hat die Sache in Angriff genommen und weit vorangebracht, aber einige Desiderate gelassen, an denen weiterzuarbeiten die Mühe lohnt.
Beginnen wir mit der Skizze einer Bestandsaufnahme. In der Kritik der reinen Vernunft zeigt Kant, dass die raumzeitliche Realität einerseits nomologisch geschlossen ist und sich andererseits an ihren raumzeitlichen und kausalen Rändern ins Bodenlose entzieht, also nicht absolut real, nicht ontologisch wohlfundiert, sondern, wie Kant es nennt, „Erscheinung“ ist. Das gediegen Reale als solches, das als raumzeitliche Welt erscheint, kann die spekulative Vernunft nicht erkennen. Insbesondere lässt sich die Unvergänglichkeit der endlichen Individuen bzw. die ihrer Seelen so wenig beweisen wie die Realität der Freiheit und die Existenz Gottes (Gott gefasst als intelligente „oberste Ursache der Natur“)1. Da aber das Grundgesetz der praktischen Vernunft und alle aus ihm ableitbaren Gesetze notwendig gelten, „so muss, wenn diese irgendein Dasein, als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft, notwendig voraussetzen, dieses Dasein postuliert werden“2. Dies betrifft die erwähnten Beweislücken, und so erhält man als drei Postulate der reinen praktischen Vernunft „die der Unsterblichkeit, der Freiheit […] und des Daseins Gottes“3. Nach Kant nämlich setzt die Geltung des praktischen Grundgesetzes der reinen Vernunft dreierlei voraus: (1) dass moralische Vollkommenheit möglich ist, die indes von endlichen Individuen nur in unendlich währender Annäherung realisiert werden kann, (2) dass die Adressaten des praktischen Grundgesetzes frei sind, dem Gesetz Folge zu leisten, und (3) dass die Proportionalität von Glück und Moralität, die als höchstes Gut „das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ bildet4, aber von endlichen Akteuren nicht verwirklicht werden kann, von einem unendlichen und vollkommenen Akteur auf lange Sicht garantiert wird.
In allen drei Punkten möchte ich Modifikationen ankündigen, doch zuvor noch die Stärke des kant’schen Grundgedankens durch Vergleich herausstellen. David Lewis, ein Exponent der neueren analytischen Metaphysik, postuliert als eine weder logisch-begrifflich beweisbare noch empirisch überprüfbare, also genuin – oder sollen wir sagen: dogmatisch? – metaphysische Hypothese die Existenz vieler raumzeitlich und kausal voneinander isolierter Welten allein auf Grund ihrer wirklichen oder erhofften Erklärungskraft.5 Wichtige philosophische Analysen, an denen bislang viele gescheitert seien, ließen sich, meint er, auf der Basis dieser Hypothese durchführen. Metaphysische und epistemische Modalitäten zum Beispiel, ebenso Propositionen und Eigenschaften, ferner kontrafaktische Bedingungssätze, Kausalaussagen und manches andere mehr könne endlich theoretisch verständlich gemacht werden. Ich glaube nicht an die erhoffte Erklärungskraft, nehme sie hier um des Vergleichs willen aber an. Wie gut begründet wäre durch sie der Weltenpluralismus? Nun, was der Physik recht ist, das hypothetisch-deduktive Verfahren, so könnte man anführen, sei der Metaphysik billig. Doch physikalische Hypothesen gelten als bestätigt erst, wenn Alternativen, die bei allen bisherigen Beobachtungen erklärungsebenbürtig waren, an neuen Beobachtungen einseitig scheitern. Etwas Analoges dürfte im Fall metaphysischer Hypothesen schwer vorstellbar sein. Für den Weltenpluralismus spricht also vor allem die Freude, mit der Lewis et al. philosophische Analysevorschläge mittels möglicher Welten ersinnen und zum Besten geben können.
Das ist eine schwache Rechtfertigung einer starken metaphysischen Hypothese, schwach insbesondere im Vergleich zu Kant, dessen ebenfalls starke metaphysische Postulate eine ihrer Stärke angemessene Rechtfertigung haben. Es sei daran erinnert, dass wir in beiden Fällen das Selbstverständnis des betreffenden Autors, Lewis’ bzw. Kants, zugrunde legen: Wenn Lewis recht hat, lassen sich mit möglichen Welten wichtige philosophische Analysen erstmals erfolgreich durchführen, und wenn Kant recht hat, setzt die objektive Gültigkeit des praktischen Grundgesetzes unsere Unsterblichkeit, unsere Freiheit und Gottes Existenz voraus. Wie ist dieses Voraussetzungsverhältnis näher zu verstehen? Die objektive Gültigkeit des Grundgesetzes kann nicht theoretisch bewiesen werden; denn dazu müsste gezeigt werden, dass es, wie für die Kategorien, so für die Kausalität aus Freiheit, deren Gesetz das praktische Grundgesetz ja ist, ein transzendentales Schema gibt, gemäß dem die Zeit und vermittels ihrer der Raum durch Vernunft so vorstrukturiert sind, dass alles Raumzeitliche dem Freiheits- bzw. Vernunft- bzw. Moralgesetz notwendig entsprechen soll und kann. Einer Postulatenlehre bedürfte es dann nicht mehr. Fehlbare vernünftige Akteure würden nicht vergehen, die innerzeitliche Realität der Freiheit stünde theoretisch fest, und ein persönlicher Schöpfergott wäre überflüssig, weil die Proportionalität von Glück und Moralität in der unendlichen Annäherung der Akteure an die moralische Vollkommenheit sich zugleich immer vollkommener mitrealisieren würde. Einen solchen Beweis, eine transzendentale Deduktion der objektiven Realität der Freiheit in Raum und Zeit, lässt die transzendentale Analytik nicht zu. Dennoch ist das Bewusstsein der objektiven Gültigkeit des praktischen Grundgesetzes nach Kant gerechtfertigt, nämlich als „ein Faktum der Vernunft“ und sogar als „das einzige Faktum der reinen Vernunft“6, und ist daher für vernünftige Lebewesen gar nicht rational bezweifelbar. Dann aber sind auch die notwendigen Voraussetzungen der Gültigkeit des praktischen Vernunftgesetzes nicht rational bezweifelbar.
Dies betrifft vor allem die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes, während die Realität der Freiheit eigentlich keine Voraussetzung des Faktums der Vernunft, sondern mit ihm identisch ist, da ja das praktische Grundgesetz das Gesetz der Freiheit ist. In der dritten Kritik erklärt Kant denn auch die Idee der Freiheit zu der „einzige[n] unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache [eben das Faktum der Vernunft] ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muss“, „obwohl sie keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist“7. Die Spekulation bzw. philosophische Theoriebildung kann also nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit beweisen. Sie kann allenfalls Beweisversuche des Gegenteils entkräften oder entschärfen wie etwa das Argument für die Antithesis der dritten Antinomie der reinen Vernunft („Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“8), zu dem Kant selbst beigetragen hat in seinem Beweis der zweiten Analogie der Erfahrung („Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“9) und das er in der transzendentalen Dialektik relativieren muss. In die Nähe eines Unmöglichkeitsbeweises der Freiheit kommt die Spekulation auch auf Grund einer freiheitsinternen Aporie, die 1790 Erhard Schmid in Jena unter dem Etikett des intelligiblen Fatalismus publik gemacht hat: Entweder handeln wir nach dem Gesetz der Freiheit, also gemäß der Autonomie des Willens; dann ist unser Tun moralisch gut. Oder wir verhalten uns heteronom bestimmt, gemäß Naturgesetzen; dann sind wir reine Naturwesen, die für ihr Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden können. Ob wir uns so oder so verhalten, steht nicht in unserer Macht, sondern ist ein (intelligibles) Fatum.10 Kant blieb ungerührt. Reinholds Rettungsversuch mittels der regressgefährdeten Einführung einer Freiheit der Willkür als Freiheit zweiter Stufe,11 nämlich eines „Vermögen[s] der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln“, wies er zurück, ohne einen eigenen Rettungsversuch zu unternehmen (Metaphysik der Sitten12). Die Möglichkeit der Freiheit ist eben theoretisch nicht aufzuklären. Gleichwohl ist ihre Wirklichkeit eine Tatsache: das handelnd realisierte Faktum der Vernunft. Allerdings glaube ich, dass man die Notwendigkeit und damit auch die Wirklichkeit der Freiheit sehr wohl theoretisch beweisen kann, nämlich aus der Natur der Zeit, indem man zeigt, dass nur freie Akteure in der Lage sind die Symmetrie der Zeit zu brechen und den Unterschied von Zukunft und Vergangenheit zu verstehen.13 Dann aber sollte die Theorie auch eine spekulative Lösung für die Aporie des intelligiblen Fatalismus entwickeln können. Dazu müsste zunächst einmal gezeigt werden, dass wir als vernünftige Naturwesen prinzipiell nie völlig autonom und nie völlig heteronom bestimmt handeln, sondern uns stets zwischen beiden unerreichbaren Polen bewegen. Aber diese Modifikation meinerseits ist ein Thema für andere Gelegenheiten.
Im Unterschied zum scibile Freiheit können Unsterblichkeit und Gott nicht in Kants strengem Sinn gewusst, sondern müssen geglaubt werden – geglaubt aus vernunftinternen Gründen. Als Wissen im strengen Sinn erkennt Kant die Postulate deswegen nicht an, weil die Ideen oder reinen Vernunftbegriffe anders als die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe aus prinzipiellen Gründen nicht als logisch verschränkt mit einer unabhängigen Realität bewiesen werden können, die im Fall der Kategorien die raumzeitliche ist. Die Freiheit ist scibile, „wissbar“, weil sie im Wollen und Handeln von uns selbst realisiert wird. Unsterblichkeit und Gott hingegen müssen mit vernunftinterner und insofern logischer Notwendigkeit geglaubt werden. Dies aber immerhin. Manche moralisch achtsamen Akteure mögen zwar dem Buchstaben nach Unsterblichkeit und Gott bestreiten. Doch das ist dann Gerede, ungefähr im technischen Sinn Heideggers, wenn nicht gar Bullenschiet („bullshit“) im technischen Sinn Harry G. Frankfurts. Denn die Bestreitenden können ihr Bestreiten nicht in einem identischen Bewusstsein mit dem praktischen Gesetz verbinden, so wenig wie man nach Aristoteles in einem einzigen Bewusstsein zusammenbringen und somit annehmen (hypolambanein) kann, dasselbe sei der Fall und sei nicht der Fall14). Atheisten mögen durchaus moralisch vorbildlich wollen und handeln; logisch vorbildlich sind sie nicht.
2. Die strukturelle Egozentrik des Wollens
Beileibe nicht alle (meta-)ethischen Ansätze haben derart weitreichende Konsequenzen für die Metaphysik und für eine reine Vernunftreligion. Natürlich nicht, wird man mit Recht sagen, da die Normenbegründung selten aus reiner Vernunft erfolgt. Weder in hedonistischen, eudämonistischen und utilitaristischen Theorien zum Beispiel, auch nicht in Mitleidsethiken, die alle in der einen oder anderen Weise am Gedanken des Glücks orientiert sind, noch in Rekursen auf Formen substanzieller Sittlichkeit wird sich ein Widerspruch in Beziehung auf die Annahmen der definitiven Sterblichkeit der Menschen oder der Nichtexistenz Gottes herleiten lassen, allenfalls, wenn es hochkommt, ein Widerspruch bei der Leugnung der Freiheit. Daher soll zunächst Kants Grundgedanke, dass reine Vernunft praktisch ist, an diesen alternativen Ansätzen profiliert und bekräftigt werden, im gegenwärtigen Abschnitt insbesondere an Aristoteles’ Eudämonismus als der profundesten Theorie aus der ersten Gruppe und im nächsten Abschnitt an Hegels Hervorhebung der substanziellen Sittlichkeit.
Dem Namen nach, sagt Aristoteles an vielzitierter Stelle, stimmen die meisten bezüglich des höchsten praktischen Gutes überein und nennen es das Glück, eudaimonia, worunter sie das Gut-Leben, eu zēn, und das Wohlbefinden, eu prattein, verstehen; aber worin es besteht, darüber herrscht Dissens15. Der Hedonismus und der klassische Utilitarismus sehen das Glück in der Lustmaximierung und Unlustminimierung, jener für das je betreffende Individuum, dieser für Personen allgemein oder sogar für alle empfindenden Lebewesen. In diesem Sinn ist der Utilitarismus ein Universalhedonismus und trifft sich dabei, sofern der Akzent auf Unlustminimierung gelegt wird, mit der Mitleidsethik. Immer steht das Glück, positiv als Lust oder negativ als Unlustvermeidung, im Zentrum. Dies gilt auch und per definitionem für den Eudämonismus. Nur ist dieser differenzierter und treffender in der Bestimmung des Glücks als die konkurrierenden Ansätze.
Das Glück, die eudaimonia, hat drei wesentliche Aspekte, die Aristoteles in drei Lebensformen auseinanderlegt, den bios apolaustikos, den bios politikos und den bios theōrētikos, also das Genussleben, das tätige Leben und das Leben in Kontemplation. Als Glück gilt im Genussleben (dessen theoretische Ausarbeitung der Hedonismus ist), die prekäre, stets bedrohte hēdonē, Lust, als Unglück die stets drohende lypē, Unlust. Das Glück des tätigen Lebens ist das ehrenvolle Gelingen des Tuns in der Polis, von unverschuldetem Unglück stets bedroht auch es, weil, wie Aristoteles weiß und hervorhebt, das Glück trotz allem, was man mit eigener Tüchtigkeit zu ihm beitragen kann, weitgehend Glückssache ist. Allein das Glück der Kontemplation wäre vollkommen und selbstgenügsam und für sich betrachtet das wahre und beste Glück. Aber es ist den Sterblichen, die ihr Leben in der sukzessiven Zeit zu führen haben, nur für Augenblicke vergönnt und sonst den Göttern vorbehalten, die ihre Kontemplation nicht durch Besorgungen unterbrechen müssen. Für Menschen hingegen sind Besorgungen definitorisch, und die Ganzheit ihres in die Zeit zerstreuten Seins ist die Sorge, wie Heidegger lehrt, indem er zugleich den zeitlichen Charakter der Sorge akzentuiert: „Die Seinsganzheit des [menschlichen] Daseins als Sorge besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in (einer Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). […] Die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit.“16 Und: „Die Sorge ist Sein zum Tode.“17
Wenn wir von Heideggers Grundunterscheidung des Ontologisch-Existenzialen vom Ontisch-Existenziellen absehen, entnehmen wir dem, was auch unabhängig entwickelt wurde,18 dass (ontisch-existenziell und mit der Tradition zu reden, die Kant vor Augen stand) die Vermögen der Seele oder „des Gemüts“19 – das Erkenntnisvermögen, kraft dessen uns das innerweltlich Begegnende zugänglich ist, bei dem wir verfallend sind, sodann das Gefühl der Lust und Unlust, kraft dessen wir uns immer schon in der Welt so und so gestimmt befinden, und drittens das Begehrungsvermögen, kraft dessen wir uns aus unserem Je-uns-schon-vorweg-Sein beim zu Besorgenden verstehen –, dass also diese Vermögen ihre Zusammengehörigkeit und Ganzheit aus der Zeitlichkeit mit den drei „Ekstasen“ Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft bzw., „vulgär“ gesprochen, aus der Zeit mit ihren drei Modi erhalten. In ihrer zeitlichen Einheit konstituieren, ontisch-existenziell gedacht, die genannten Vermögen die Seele oder das Gemüt und konstituieren, jetzt wieder mit Heidegger ontologisch-existenzial gedacht, die genannten Aspekte des Daseins dessen Seinsganzheit, die Sorge.
Die für unsere Fragestellung relevante Verbindung zum Eudämonismus ergibt sich daraus, dass diese Ganzheit unter einem „primäre[n] Wozu“ steht, das „kein Dazu als mögliches Wobei einer Bewandtnis“ mehr ist, sondern „ein Worum-willen“, wobei das „Umwillen […] immer das Sein des Daseins [betrifft], dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht“.20 Wenn wir diese existenziale Redeweise ins Existenzielle rückübersetzen, finden wir uns bei Aristoteles wieder und bei der rein strukturellen, somit denn doch wieder existenzialen Egozentrik, die zum Begriff der eudaimonia gehört. Dem Dasein geht es um sein je eigenes Sein – je mir um je meines, je dir um je deines. Ein inhaltlicher, existenzieller Egoismus muss darin natürlich nicht liegen; denn ich kann das Wohlergehen anderer zu meinem Anliegen machen, es in das Verständnis meines Seins und in meinen Willen aufnehmen. Aber das muss ich dann auch tun: fremdes Wohlergehen in meinen Willen aufnehmen und als Beitrag zu meinem Glück unter eben dieses subsumieren.
Das Erkenntnisvermögen und das Glück der Kontemplation stehen unter dem Primat der Gegenwart, das Begehrungsvermögen und das Glück des tätigen Lebens unter dem Primat der Zukunft, das Gefühl der Lust oder Unlust und das Glück der Lust unter dem Primat der Vergangenheit bzw. der Immer-schon-Gewesenheit. Schon allein, weil sterbliches Begehren zukunftsgerichtet ist, hatte Aristoteles also recht, die an sich zweitbeste Lebensform, die des bios politikos, als die für die Menschen bestmögliche anzusetzen und theoretisch auszuarbeiten. Die Kontemplation ist kein Ziel, zumindest kein direktes, sondern ist, wo sie vorwaltet, ungesuchte Gegenwart, und die Lust hat sich immer schon als Zugabe eingestellt, sobald uns etwas gelingt, und ist in solchen Fällen auch am intensivsten. Wer die Lust hingegen direkt anzielt und so im Grunde Vergangenheit in Zukunft verkehrt, schwächt sie tendenziell ab und bekommt weniger, als möglich wäre. Diese Kritik trifft mit dem Hedonismus auch den Utilitarismus, allerdings nicht solche präferenzutilitaristischen Nichtstandardvarianten, falls es sie gibt, die statt der hēdonē mit Aristoteles die eudaimonia des gelingenden tätigen Lebens in den Mittelpunkt stellen. Gegen den Utilitarismus spricht aber auch dann noch ein basales Motivationsproblem, das aus dem strukturellen oder existenzialen Egoismus im Worum-willen resultiert: Es mag altruistisch gesinnte Menschen geben, die das allgemeine Glück zu ihrem persönlichen Anliegen machen; denjenigen aber, die dies nicht tun, kann man einen Universalhedonismus oder einen Universaleudämonismus nicht wirkungsvoll ansinnen.
So bleibt Aristoteles’ Eudämonismus die überzeugendste der glücksorientierten Ethiken und die, an welcher Kants Position sich vornehmlich bewähren muss. Die Ausgangsfrage der Kritik der praktischen Vernunft ist es, ob es praktische Gesetze gibt und wie sie, falls es sie gibt, beschaffen sind. Sie müssten sich von Naturgesetzen grundlegend unterscheiden. Strenge Gesetze der Natur im Unterschied zu Faustregeln gibt es, wie zu Kants Zeit noch weniger klar war als heute, nicht in der Psychologie, nicht in der Biologie, selbst nicht in der Chemie, sondern allein in der Physik. Strenge Naturnotwendigkeiten werden formuliert in den deterministischen Grundgleichungen der relativistischen Makrophysik und in der ebenfalls deterministische Schrödingergleichung der quantentheoretischen Mikrophysik. Im Wollen und Handeln hingegen denken wir uns als frei, und da der freie Wille als Wille kein Zufallsgenerator sein kann, muss es Gesetze der Freiheit geben. Kants wohlbekannte Argumentation, die hier nicht nachvollzogen werden muss, läuft darauf hinaus, dass es, wenn überhaupt praktische Gesetze, dann ein singuläres praktisches Grundgesetz gibt, das die reine praktische Vernunft qua Wille sich selbst gibt und das als kategorischer Imperativ formulierbar ist. Erst im Anschluss an die gefundene Formulierung21 zeigt sich als „Folgerung“22, dass das in abstracto konzipierte Gesetz der Freiheit zugleich das Grundgesetz der Moralität, also ein alter Menschheitsbekannter ist, jetzt neu ausgewiesen als das singuläre Faktum der reinen praktischen Vernunft.
Der logischen Anforderung struktureller bzw. existenzialer Egozentrik alles Wollens, die der Eudämonismus freilegt, braucht der kategorische Imperativ nicht erst noch angepasst zu werden. Er erfüllt sie von selbst, denn die zweite Person Singular, in der Kant ihn formuliert, ist die der Selbstanrede eines vernünftigen Wesens. Ich, das jeweilige Subjekt, will als Vernunftwesen und soll daher als Naturwesen so handeln, dass die Maxime meines Willens zugleich als allgemeine Gesetzgebung gelten könne. Darin liegt im Übrigen eine viel zu oft vernachlässigte Wahrheit: Moralität, im Unterschied zu sanktionsbewehrter Legalität, können wir unmittelbar immer nur uns selbst ansinnen. Moralische Kritik ist in concreto Selbstkritik, und nur sofern ich andere als meinesgleichen anerkenne und achte, kann ich sie in abstracto in die Selbstkritik einschließen. Das gilt jedenfalls „im ethischen Naturzustande“, in dem wir uns faktisch befinden23). Alles Aufbegehren gegen die vermeintliche oder wirkliche Unmoral anderer ist, „weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann“24, vor allem eines: scheinheilig. Rechte hingegen, die eigenen wie die der Allgemeinheit, kann ich jederzeit ohne weiteres von anderen einfordern.
Aristoteles und Kant bezeichnen Verschiedenes mit ihren respektiven Termini für das Glück. Aristoteles begreift, was er eudaimonia nennt, als umfassende Tätigkeit, Kant, was er Glückseligkeit nennt, als umfassenden Zustand, darin einig mit der hedonistisch- utilitaristischen Moderne. Das unbedingt Gute ist jedoch auch nach Kant eine Tätigkeit, nämlich die des freien, vernünftigen und moralischen Wollens und Handelns, also gerade nicht der Zustand einer nachhaltigen hēdonē, den der moderne Meinungsstrom mit „den Vielen“, die Aristoteles vor Augen standen, als Glück denkt. Ebenso wie das umfassende Glück der aristotelischen eudaimonia ist das einseitige Glück der hēdonē natürlich zu guten Teilen Glücksache, und gerade wegen der ungerechten Glücksverteilung unter den Menschen lässt Kant die reine praktische Vernunft das Dasein eines allwissenden, allgütigen und allmächtigen Gottes postulieren, der jenseits des gegenwärtigen Lebens für Gerechtigkeit sorgt. Für ein solches Vernunftpostulat hat Aristoteles keine Grundlage zu bieten, weder in der Ethik noch in der Metaphysik. Es gehört zum Leben der Sterblichen, dass Krankheiten, Unfälle, Naturkatastrophen, soziale Ungerechtigkeiten, Kriege und Verbrechen das Glück auch derjenigen beeinträchtigen, ja zunichte machen können, die alle glückswichtigen Tüchtigkeiten in sich ausgebildet haben. Man mag es bedauern, man mag es beweinen, man mag es stoisch ertragen – aber dies ist die conditio humana. Auch die moderne Hoffnung auf fortgesetzten sozialen und technischen Fortschritt würde daran nichts Prinzipielles ändern, zumal der Fortschritt für alle diejenigen zu spät käme, die bisher entsetzlich leben mussten und entsetzlich gestorben sind.
3. Der Formalismus des Freiheitsgesetzes und die substanzielle Sittlichkeit
Bewähren muss sich Kants Moralphilosophie wie an Aristoteles’ Eudämonismus, so auch an Hegels Gedanken der substanziellen Sittlichkeit, in der „die subjektive Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille […] zur Natur geworden“ ist25, sodass die einzelne Person „ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige und als Seiendes [vollbringt] und […] in dieser Notwendigkeit sich selbst und ihre wirkliche Freiheit“ hat26. Die Pflicht wird ohne Reflexion erfüllt, nicht als aufdringliche Forderung, sondern als seiende (zweite) Natur. Von Glück ist dabei allerdings nicht die Rede, sodass schon aus diesem Grund für die Fundierung einer rein vernünftigen, auf Moralität gegründeten Religion die Konzeption der substanziellen Sittlichkeit so wenig hergibt wie der Eudämonismus. Wohl jedoch bietet sie ein Korrektiv oder eine Ergänzung zu dem, was Hegel an Kants Moralphilosophie als „leeren Formalismus“ und „Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen“ geißelt, von wo „nicht zur Bestimmung von besonderen Pflichten übergegangen“, sondern womit im Gegenteil „alle unrechtliche und unmoralische Handlungsweise […] gerechtfertigt werden“ könne.27 Die besonderen, nicht abstrakt fordernden, sondern seienden Pflichten sind die sittliche Substanz eines Volkes, einer Gesellschaft, eines Staates, und
„[d]ie Gesinnung der Individuen ist das Wissen der Substanz und der Identität aller ihrer Interessen mit dem Ganzen, und dass die andern Einzelnen gegenseitig sich nur in dieser Identität wissen und wirklich sind, ist das Vertrauen, – die wahrhafte, sittliche Gesinnung.“28
Hegels sich hier andeutende Position ist also etwa folgende: Das formale Vernunftgesetz der Freiheit, mit dessen Formulierung Kant, wie Hegel durchaus anerkennt, „die Wurzel der Pflicht herauszuheben“ vermochte,29 reicht für die Herleitung besonderer Pflichten nicht aus. Ein Dieb etwa könnte sein Stehlen unter die Maxime bringen, er, dem persönlich nichts am Privateigentum liege, wolle, solange dieses bestehe, davon profitieren und, wenn keine Entdeckung seines Tuns zu befürchten sei, an sich nehmen, was ihm dienlich sei. Wenn er sich diese Maxime als allgemeines Gesetz vorstellt, sich also vorstellt, dass alle, denen nichts am Privateigentum liegt, stehlen, muss er sich vorstellen, dass sich entweder die Institution des Privateigentums auflöst, an der ihm aber nichts liegt, oder dass nur so wenigen nichts an ihr liegt, dass sie intakt bleibt und die wenigen Gleichgültigen weiterhin stehlen können. Natürlich kann man über die Stimmigkeit des gewählten Beispiels streiten; aber dass man hier streiten kann, zeigt schon, wie schwer oder nachgerade aussichtslos es ist, allein aus dem kategorischen Imperativ besondere Pflichten abzuleiten.
Besondere Pflichten müssen nach Hegel immer schon befolgt worden sein, wenn das formale Vernunftgesetz seinen praktischen Nutzen zur Kritik vermeintlicher Pflichten und seinen theoretischen Nutzen zur Einsicht in die vernünftige Autonomie des Willens entfalten soll. Jene besonderen Pflichten machen das Leben der Individuen einer Population, ihre zweite Natur, aus. Sie fallen ihnen nicht als Pflichten auf und sind kein Gegenstand der Reflexion, sondern stiften unauffällig Gemeinsamkeit und alltägliches Vertrauen, weil alle Individuen fraglos davon ausgehen können, dass unter Standardbedingungen alle anderen sich jenen Üblichkeiten gemäß verhalten. Kant könnte insofern sagen, dass ceteris paribus alle geneigt sind, als soziale Wesen sich den unausgesprochenen besonderen Pflichten ihrer Gruppe gemäß zu verhalten, wie sie auch geneigt sind, als Naturwesen ihre Triebe zu befriedigen, und überhaupt geneigt, ihre Wünsche beliebiger Provenienz handlungswirksam werden zu lassen, so gut es geht.
Das Sammelsurium der verschiedenartigen Neigungen, halbwegs in eine widerspruchsarme Ordnung gebracht, ergibt nach Kant den über die Zeit „schwankenden Begriff“ der Glückseligkeit, den jeder Mensch sich selbst „durch seinen mit der Einbildungskraft und den Sinnen verwickelten Verstand“ entwirft30. Von diesem Begriff geht ein logischer Druck sozusagen von unten, letztlich aus dem faktischen Verhalten, in dem wir uns immer schon vorfinden, auf das Begehrungsvermögen aus, dem von oben logisch das Vernunftgesetz der Freiheit entgegenwirkt, bis im moralischen Idealfall ein Überlegungsgleichgewicht erreicht ist, durch das dem Gesetz Rechnung getragen wird. Die Vernunftforderung: Bringe, was du willst und tust, unter verallgemeinerbare Maximen, lässt sich einerseits zynisch und andererseits formalistisch missdeuten, zynisch als: Tu, was du willst und überlege dir verallgemeinerbare Ausreden, und formalistisch als: Lehne dich zurück, bilde verallgemeinerbare Maximen und handle dann danach. In Wahrheit kommt es darauf an, unser faktisches Verhalten durch Vorsätze so zu interpretieren und die Vorsätze tentativ so unter Maximen zu subsumieren, dass diese verallgemeinerbar sind. Wenn uns das in bestimmten Fällen trotz angestrengter „Ausredensuche“ nicht gelingen will, sollten wir von dem fraglichen Verhalten Abstand nehmen, denn es wäre mit großer Wahrscheinlichkeit gesetzwidrig, und dies auch dann, wenn die Üblichkeiten der substanziellen Sittlichkeit nicht verletzt würden. Denn selbstverständlich unterliegt auch diese der Letztkontrolle durch die reine Vernunft.
So lässt sich an der Gültigkeit des reinen praktischen Vernunftgesetzes in einer Weise festhalten, die nicht mehr dem Verdacht rigoristischer Prinzipienreiterei und nicht mehr dem Verdacht des leeren Formalismus ausgesetzt ist. Für die Religionsphilosophie ist dies deswegen essenziell, weil ohne die Gültigkeit des praktischen Grundgesetzes als eines reinen Vernunftgesetzes keine Postulatenlehre möglich wäre.
4. Ein ethisches Gemeinwesen als Reich Gottes auf Erden?
Wenn oben das Aufbegehren gegen fremde Unmoral als scheinheilig apostrophiert wurde, so bezog sich dies auf den ethischen Naturzustand, in dem wir leben und in dem „ein jeder sein eigener [moralischer] Richter“ ist, wie im juridischen Naturzustand jeder sein eigener rechtlicher Richter wäre31. Nach Kant jedoch sind vernünftige Lebewesen verpflichtet, nicht nur aus dem juridischen Naturzustand in ein politisches Gemeinwesen, einen Staat, sondern auch aus dem ethischen Naturzustand in ein ethisches Gemeinwesen einzutreten, das Kant im Unterschied zum Staat „Kirche“ nennt. Das ist in mehrerlei Hinsicht merkwürdig (im gegenwärtigen wie im vormaligen Sinn des Wortes). Zum einen ist natürlich die Vorstellung eines Naturzustandes als solche problematisch, denn sobald vernünftige Lebewesen existieren und interagieren, haben sich hinter ihrem Rücken, mit Hegel zu reden, immer schon informelle Strukturen des abstrakten Rechts, der Moralität und der substanziellen Sittlichkeit ausgebildet, die zudem von Anfang an, wie implizit auch immer, bereits dem reinen praktischen Vernunftgesetz als unbedingter Richtschnur unterliegen. Einen Naturzustand kann es unter Vernunftwesen also schlechterdings nicht geben, nur unzureichende Vorformen von Recht und Staat.
Zum anderen sind zwei entscheidende Differenzen zwischen Recht und Moral bzw. Staat und „Kirche“ zu beachten. Erstens normiert das Recht äußere Handlungen und ist zwangsbewehrt; die Moral hingegen normiert ohne Zwang „Tugendgesinnungen“, also „das Innere“ der Menschen, das „der menschliche Richter nicht durchschauen kann“. – „Wehe dem Gesetzgeber“, sagt Kant daher, „der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte!“32. Zweitens sind Staaten nicht nur faktisch, sondern notwendig viele.33 Die Vorstellung eines singulären Systems von Zwangsgesetzen, aus dem keine Auswanderung und auch keine Flucht mehr möglich wäre, ist eine Horrorvision, ganz abgesehen davon, dass Staaten mit ihren unterschiedlichen Verfassungen den untilgbaren Variationen in der substanziellen Sittlichkeit Rechnung zu tragen haben, die zum Leben der verschiedenen Ethnien gehören. Die ideale, rein vernünftige „Kirche“ hingegen soll ein Singularetantum sein am imaginären Konvergenzpunkt der Entwicklungsfluchtlinien faktischer Religionsgemeinschaften, also jenseits der Variationen substanzieller Sittlichkeit, und demgemäß extrem sparsam in der Dogmatik und extrem formal in den – zwangsfreien – Vorschriften. Merkwürdig ist zum dritten, dass Kant es als „eine Pflicht von ihrer eigenen Art, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“, betrachtet, auf jene allgemeine „Republik nach Tugendgesetzen“ hinzuwirken, von der wir überdies gar nicht wissen können, „ob sie auch in unserer Gewalt stehe“, zumal wir nicht einmal verlässlich kotrollieren können, ob wir der Realisierung der „erhabene[n], nie völlig erreichbare[n] Idee eines ethischen gemeinen Wesens“34 wenigstens schrittweise näherkommen. Wir können nämlich nicht ins Innere anderer Menschen schauen, und sogar unsere je eigenen Gesinnungen sind uns nicht völlig transparent. Im Rückgriff auf die Struktur der Urteils- und Kategorientafel kann Kant bloß abstrakt feststellen, dass das ethische Gemeinwesen der Quantität nach allgemein, der Qualität nach lauter, der Relation nach frei und der Modalität nach unveränderlich sein muss35. Wiederum, wie im Fall der Proportionalität von Moralität und Glück, glaubt er hier zuletzt auf die „Idee eines höheren moralischen Wesens“ rekurrieren zu müssen36, das unser Bemühen um ein ethisches Gemeinwesen wirkungsvoll anleitet und unterstützt. Und so ergibt sich mit der Vorstellung jenes Wesens zugleich „der Begriff von einem Volke Gottes unter ethischen Gesetzen“37.
Für die Postulatenlehre eröffnen sich damit aufschlussreiche Interpretationsperspektiven. Unter der Unsterblichkeit der Seele eines vernünftigen Wesens versteht Kant eine „ins Unendliche fortdauernde […] Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“38. Wie dieses Postulat mit der Erfahrungstatsache der Sterblichkeit der Menschen vereinbar sein soll, lässt er offen. Unendliche Fortdauer ist potenzielle oder, wie Hegel sagen würde, schlechte Unendlichkeit entlang der Linie der sukzessiven Zeit. Die Zeit aber ist zusammen mit dem Raum die allgemeine Form des erscheinenden Realen. Die Unsterblichkeit der Seele bedeutet folglich nicht den nachirdischen Eintritt der Seele in ein seliges Leben, sei es unmittelbar, sei es nach einer Läuterungsphase, oder aber in dessen Gegenteil, und auch nicht ihren Rückzug aus der Erscheinung ganz in die intelligible Welt, der wir als Freie nach Kant jetzt schon durch das Erscheinen hindurch angehören. Nach dem irdischen Tod treten wir vielmehr wiederum in ein Raumzeitsystem ein, entweder in ein numerisch und vielleicht auch spezifisch anderes als das uns bisher bekannte oder erneut in dasselbe. Wenn Kant daher in der Religionsschrift von unserer Annäherung an die Idee eines ethischen Gemeinwesens als eines Reiches Gottes auf Erden spricht, ist es naheliegend, wenn auch nicht zwingend, ihm die Annahme des – unbiblischen – Reinkarnationsgedankens zu unterstellen, mit dem Lessing 1780 in den Schlussparagrafen39 der Erziehung des Menschengeschlechts geliebäugelt hatte. Die Widerfahrnisse eines einzelnen Erdenlebens würden damit relativiert. Denn in einer potenziell unendlichen Zeitreihe geht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum durch die Launen der Natur und die Taten der anderen ebenso viel Leid und ebenso viel Freude erfährt wie jedes andere, gegen eins, und die Proportionalität von Glück und Moralität stellt sich gleichfalls von ganz selbst ein, wenn die Individuen sich der moralischen Vollkommenheit immer weiter annähern. In der Nähe des Grenzwerts wäre schließlich auch das ethische Gemeinwesen so gut wie realisiert.
Der damit absehbaren moraltheologischen Funktionslosigkeit eines persönlichen Gottes trug Fichte 1798 in seinem Aufsatz „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ dadurch Rechnung, dass er die Vorstellung eines personalen Souveräns und Regenten der moralischen Weltordnung für überflüssig und sogar für ungereimt erklärte und Gott oder das Göttliche schlicht mit der moralischen Weltordnung selbst gleichsetzte. Von besonderem Interesse ist dabei die Begründung der Ungereimtheit der Vorstellung eines Gottes, der einerseits unendlich sein und andererseits Persönlichkeit und Bewusstsein haben soll: Bewusstsein und Persönlichkeit können wir uns, sagt Fichte zu Recht,40 „ohne Beschränkung und Endlichkeit schlechterdings nicht“ denken. „Ihr macht“, wendet er sich an diejenigen, die es versuchen, Gott „zu einem Wesen eures Gleichen, und habt nicht, wie ihr wolltet, Gott gedacht, sondern nur euch selbst im Denken vervielfältigt“.41 1806, in der Anweisung zum seligen Leben, wie schon in den zeitnahen Wissenschaftslehren von 1804 und 1805, hält er, inzwischen um die Erfahrung des Atheismusstreits reicher, zwar an der Leugnung eines persönlichen Gottes fest, setzt aber nunmehr Gott mit dem absoluten und lebendigen Sein gleich und rechnet die moralische Weltordnung demgegenüber zur Seite des absoluten Wissens, das nicht das Sein oder Absolute selbst, sondern seine Existenz bzw. Wirklichkeit ist, also das Herausgetretensein Gottes in die Unverborgenheit. Das selige Leben wird dabei zu etwas, was jederzeit, auch schon gegenwärtig, erreichbar ist. Im Erreichen, wenn es denn eintritt, wird das endlose Fortschreiten zwar nicht beendet, wohl aber sein schlecht Unendliches in die Gegenwart der seligen Kontemplation aufgehoben, sodass das Fortschreiten, ohne zu stören, nebenher weiterlaufen kann. Bei Fichte hat es seine Raison d’être weniger in der uns aufgegebenen endlosen moralischen Vervollkommnung, sondern ist zunächst einmal eine unmittelbare Folge dessen, dass die Individuen ihre Entstehung der objektivierenden internen Reflexion des Einen absoluten Wissens oder Ichs verdanken. Diese Reflexion ist der Grund dafür, dass „kein wirklich gewordenes Individuum jemals untergehen“ kann, sondern jedes sich „in höhern Sphären“ unendlich fortentwickeln wird.42
Kant hingegen revoziert nirgends den moraltheologisch motivierten Gedanken Gottes als der intelligenten Weltursache, die zugleich der Herzenskündiger ist, der ins Innere der Gesinnungen aller Individuen schaut, obwohl dieser Gedanke sich als eine notwendige Voraussetzung der Gültigkeit des Sittengesetzes nicht mehr halten lässt, wenn zugleich im Postulat der Unsterblichkeit der Seele die endlose moralische Vervollkommnung der Individuen (und die der Menschengattung auf ihrem Weg zum ethischen Gemeinwesen) als aufgegeben angenommen wird. Allenfalls als Hilfe bei der Lösung dieser Aufgabe könnte Gott noch nötig sein.43 Aber das müsste eigens gezeigt werden, und zwar so, dass die Personalität Gottes für seine helfende Rolle als wesentlich erschiene. Davon einmal abgesehen, kommen wir gemäß der Annahme der Unsterblichkeit dem Reich Gottes auf Erden und der Proportionalität von Glück und Moralität durch endloses Fortschreiten auch dann näher und beliebig nahe, wenn „Gott“ keine bewusste Intelligenz bedeutet, sondern etwa nur der Titel für das absolute Sein ist, dessen Existenz qua absolutes Wissen sich immer schon in eine Vielzahl von – unvergänglichen – Individuen gespalten hat.
5. Das Leiden an der Zeit und das Glück der Kontemplation
Allerdings bleibt bei Kants Konzeption der Unsterblichkeit ein Problem, das sich für Fichte nicht stellt. Denn anders als Fichte sieht Kant nicht vor, dass die schlechte Unendlichkeit im Fortexistieren irgendwann durch den Eintritt in ein seliges Leben aufgehoben wird. Das selige Leben wäre das nachhaltige Glück der Kontemplation, das nicht mehr verloren gehen kann. Seiner Nachhaltigkeit scheint aber grundsätzlich die Natur der Zeit mit der ihr zugehörigen Sorgestruktur entgegenzustehen, weswegen denn auch Aristoteles dieses Glück den Göttern vorbehalten glaubte. Vielleicht ist Fichte also zu optimistisch, wenn er es als menschenmöglich ausgibt. Vielleicht bedürfte es doch eines personalen Gottes, der in ferner Zukunft den nahe am Grenzwert der moralischen Vollkommenheit Angekommenen, die einander stets mit Freundlichkeit begegnen, eine ebenso freundliche Natur gewährt, damit ihr Glück ihrem moralischen Stand entspricht. Und selbst angenommen, sie könnten durch ihre technischen Errungenschaften aus eigener Kraft für eine freundliche Umwelt sorgen, so bliebe ihnen doch als Generalbass des Lebens das Leiden an der Struktur der Zeit, das nun zu thematisieren ist.
In der Sorge als der Ganzheit unseres Seins sind wir, wenn wir Heidegger ins Ontisch- Existenzielle rückübersetzen, begehrend uns je vorweg in der Zukunft, so und so gestimmt durch eine immer schon gewesene Vergangenheit, wahrnehmend bei innerweltlich begegnendem Seiendem in der Gegenwart. Das strukturelle Uns-selbst-vorweg-Sein, angetrieben von einer ebenso strukturellen über unser jeweiliges Jetztsein hinausweisenden Egozentrik des Begehrens, macht uns rastlos und in der Tiefe unglücklich – selbst noch im genuin menschlichen, immerhin zweitbesten Glück. Des Besorgens nämlich ist kein Ende: Immer steht noch etwas aus, und sei es am geglückten Tag auch nur die Sicherung (oder Überbietung?) des Gelungenen und Erreichten. So sorgt die ununterbrochene Betriebsamkeit des Besorgens zwar für Abwechslungen, jedoch für lastende und schale und im Grundsätzlichen immer gleiche. Daher ist es kaum verwunderlich, dass viele, darunter als ein Wortführer Bernard Williams,44 in einem endlosen Weiterleben keine tröstliche Phantasie, sondern ein Schreckensszenarium erblicken. Der Tod allerdings, der den begrifflich unendlichen Progress der Zielsetzungen faktisch abbricht, wäre als unwiderrufliche Annihilation eines Menschen um keinen Deut tröstlicher, sondern seinerseits vielmehr absurd. Das wendet Sartre gegen Heidegger ein,45 der, indem er die Sorge als Sein zum Tode fasst, dem Vorlaufen in den Tod die Sinnstiftung für ein „eigentliches“, authentisches Leben zutraut. Zwar würde Heidegger sich von solcher Kritik nicht getroffen fühlen, weil sein Denken sich nicht auf der ontisch-existenziellen, sondern auf der ontologisch-existenzialen Ebene bewegt. Nicht je mein imaginatives Vorlaufen, heißt das, längs der Linie der sukzessiven Zeit bis zu meinem eigenen Tod als einem zukünftigen Ereignis erlaubt es mir, in Eigentlichkeit zu existieren, sondern vielmehr mein immer schon Vorausgelaufen-Sein in den Tod als den Halt und Stand gebenden Aspekt meines Seins, und dieses Vorlaufen geschieht in der ursprünglichen, nichtsukzessiven Zeitlichkeit, deren Ekstasen nicht längs der Zeitlinie auseinanderfallen, sondern ineinander verschränkt mein Sein ausmachen. So weit, so gut. Aber ungeachtet der Differenz des Existenzialen und des Existenziellen scheitert Heideggers hermeneutische Phänomenologie wie jede Philosophie der Endlichkeit, wie daher auch Sartres phänomenologischer Existenzialismus (und der hermeneutische Realismus, wenn er nicht in geeigneter Weise ergänzt und variiert wird) sowie auf der reduktiven Gegenseite der szientistische Naturalismus, am Skandalon des Todes. In einer Philosophie der Endlichkeit nämlich lässt sich für die Millionen in Todeslagern gefolterten und ermordeten Menschen keine posthume Gerechtigkeit denken. Erst wenn dies möglich wäre, verlöre der Tod seinen Stachel und seine Absurdität, erst dann käme, wie wir von Kant zu lernen haben, die Vernunft als Urheberin des Freiheitsgesetzes in widerspruchsfreie Selbstübereinstimmung.
Aber dann bleibt eben noch das Problem der Sorgestruktur der Zeit, für das Kant keine Lösung vorschlägt. Fichtes Lösung hat zwei Schritte, deren erster schon erwähnt wurde: Das „Eine freie Ich“, das sich in der Welt objektiviert, spaltet sich ipso facto in ein „System – von Ichen oder Individuen“, und diese Spaltung bildet nach Fichte die unverlierbare Grundform des Daseins, sodass „kein wirklich gewordenes Individuum jemals untergehen“ kann, sondern jedes sich nach diesem Leben „in höhern Sphären“ fortentwickeln wird.46 Jedes Individuum kann also, sei es in diesem oder in einem „zweiten Leben“ (522)47 – von einem dritten, vierten usf. ist bei Fichte nicht die Rede –, die bleibende Seligkeit erreichen. Eine Reinkarnationslehre ist damit zwar nicht explizit abgewiesen, aber noch weniger nahegelegt: Das zweite Leben könnte ein ewiges jenseits der physikalischen Materialität des Raum-Zeit-Systems sein.
Auf diesen ersten Schritt wird zurückzukommen sein. Doch zunächst noch zum zweiten. Mit ihm stellt sich Fichte, ohne ein Wort darüber zu verlieren, in die Tradition derjenigen östlichen und westlichen Lehren, die entgegen allem, was wir gewöhnlich erleben und beobachten, die Glückseligkeit für jederzeit erreichbar halten, selbst in diesem Leben, wenn vielleicht auch erst nach langen Vorbereitungen und Exerzitien. Sofern dies tatsächlich möglich sein sollte, müsste das Glück der Kontemplation die alltäglichen Besorgungen durchdringen und als solches zugleich praktisch werden können. Fichte substanziiert diesen Gedanken, indem er in der Anweisung zum seligen Leben fünf notwendige Sichtweisen auf die Welt unterscheidet, die sich aus einer in der Wissenschaftslehre abgeleiteten fünffachen Spaltung des absoluten Wissens ergeben.48 Die erste und oberflächlichste darunter ist der Wahrnehmungsrealismus, dem in der Theoriebildung der reduktive Naturalismus und in der Ethik am ehesten der Hedonismus und der Utilitarismus entsprechen dürften. Die zweite Sichtweise ist eine praktische. Sie steht auf dem Standpunkt des Sittengesetzes, abzüglich der Postulate der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes, und ist so stoisch wie glücklos bemüht, die Sinnenwelt dem Gesetz anzupassen. Die dritte Stufe bringt den Umschwung. Das wahrhaft Reale ist ihr „das Heilige, Gute, Schöne“, dem mit absteigendem Realitätsge halt die Menschheit, dann das praktische Gesetz und zuletzt die Sinnenwelt folgen, die die Sphäre des Wirkens der Freiheit ist. „In der Literatur“ findet Fichte „nur wenig Spuren dieser Weltansicht: unter alten Philosophen mag Plato eine Ahndung derselben haben, unter den neueren Jacobi zuweilen an diese Region streifen“.49 Kant nennt er nicht, so als sei Kant trotz seiner Moraltheologie nicht über die zweite Stufe hinausgekommen. Zur Seligkeit fehlt der höheren Moralität der dritten Stufe nicht mehr viel, nur noch die Durchdringung ihrer Praxis durch eine ihr gemäße Kontemplation. Sie kommt auf mit der vierten Weltansicht, die „das Heilige, Gute und Schöne“ der dritten als „die Erscheinung des inneren Wesens Gottes“ begreift und Gott als das absolute Sein, welches „allein ist“.50 Hier tritt Gott in uns ein, sodass „wir selbst […] sein unmittelbares Leben“ und selig sind.51 Fakultativ kommt als fünfte Ansicht noch die wissenschaftliche hinzu, deren Vortrag uns in die Lage versetzen soll, das philosophische Schauen frei in uns zu erzeugen.
So lässt also die vierte Weltsicht nach Fichtes Konzeption in Verbindung mit der dritten das Glück der Kontemplation praktisch werden und stellt es auf Dauer – ob möglicherweise bereits in diesem Leben, wie Fichte annimmt und Aristoteles bestreitet, oder erst in einem andersartigen späteren, sei dahingestellt. Der erste Fall hat alle empirisch fundierte Wahrscheinlichkeit gegen sich. Die von Williams für den zweiten Fall befürchtete Trostlosigkeit und Langeweile des immerwährenden Weiter-so müsste dadurch außer Kraft gesetzt sein, dass in unserem Handeln die äußeren Handlungsziele, die es zumindest in diesem Leben immer geben wird, den Primat gegenüber dem Vollzug des Handelns verlören und in jenem Leben vielleicht ganz entfielen. Die aristotelische Unterscheidung zwischen einerseits Wirklichkeit, energeia oder entelecheia, und andererseits Veränderung oder Bewegung, kinēsis, wird hier relevant oder, wenn wir von Naturvorgängen auf Handlungen schauen, die von Tun, praxis, und Machen, poiēsis. Tun ist immer schon vollendeter Vollzug: Wer schaut, hat ipso facto schon geschaut. Machen ist ein Herstellen, dessen Ziel ihm äußerlich und noch nicht erreicht ist, solange das Herstellen währt: Wer ein Haus baut, hat es noch nicht gebaut52. In einem gegenwärtigen Leben, das selig wäre, dürfte das Machen mit der ihm innewohnenden Sorgestruktur, ohne noch stören zu können, das Tun nur begleiten, das jenseits der Sorge läge.
Das führt zu Fichtes erstem Lösungsschritt zurück. Wenn, wie es die Wahrscheinlichkeit will und Aristoteles lehrt, in diesem Leben kein dauerhaftes Glück der Kontemplation möglich ist, müsste das künftige Leben eines jenseits der widerständigen Materialität des uns vertrauten Raum-Zeit-Systems sein. Hier ist die Spekulation gefordert – und überfordert zugleich. Das Faktum der Vernunft setzt die Realisierung der Gerechtigkeit, also der Proportionalität von Glück und Moral voraus. Im seligen Leben wäre das Glück vollkommen, und wer glückselig wäre, wäre in der glücklichen Lage, sich ein inklusives – gnadeninklusives – Gerechtigkeitsverständnis leisten zu können im Unterschied zu einem exklusiven buchhalterischen. So veranschaulicht es einprägsam das Gleichnis vom verlorenen Sohn, dessen glücklicher Vater im Unterschied zum buchhalterischen (und durchaus verstehbaren) Bruder in jener günstigen Lage war. Doch auch einer mehr auf Proportionalität bedachten Gerechtigkeitskonzeption wäre wohl Genüge getan, denn jedes Individuum ist seine Hölle oder Läuterungsinstanz schon selbst, sobald es auf seine Taten, jetzt nicht mehr motiviert von den irdischen Zielen, die einst zu ihnen trieben, zurückblickt. Alle schönrednerischen Rationalisierungen von damals offenbaren nun ihre Nichtigkeit. Ein so von allen irdischen Verblendungen emanzipiertes Gewissen könnte den Großschurken des Erdenlebens das nachirdische Glück eine Weile oder ewig verderben. Um der Konsistenz der Vernunft willen ist nach der Kritik der spezifisch kantischen Postulatenlehre etwas Derartiges zu postulieren. Die philosophisch-wissenschaftliche Spekulation ist dann aufgefordert, Einwände gegen die Möglichkeit jenes seligen Lebens jeweils zu entkräften, obgleich sie ihrerseits nicht in der Lage ist, die Möglichkeit, geschweige denn die Notwendigkeit und somit Wirklichkeit, eines jenseitigen seligen Lebens positiv zu beweisen.
Individualität konstituiert sich nur zu den Bedingungen des materiellen Universums, dessen allgemeine, rein quantitative Formen Raum und Zeit sind. Einmal konstituiert, könnte sie aber vielleicht überdauern, wenn die Individuen nach dem irdischen Tod sich in eine (heute schon vorhandene, aber noch unauffällige) qualitative Tiefenstruktur von Raum und Zeit zurückzögen, die vielen uns geläufigen Restriktionen nicht mehr unterläge. Kraft dieser Tiefenstruktur ist das Raum-Zeit-System auch jetzt schon das geteilte, allen wahrnehmenden Lebewesen gemeinsame Bewusstseinsfeld, in dem sie sich überschneiden und das alle denkenden Lebewesen egozentrisch strukturieren und koordinieren.53 In der reinen, isolierten Tiefenstruktur könnten epistemische und kausale Einschränkungen, so etwa Abschattungen und die Obergrenze für Signalübertragungen und Wirkzusammenhänge, die an der materiellen Oberfläche die Lichtgeschwindigkeit bildet, gegenstandslos werden und alle gegenwärtig unvermeidliche epistemische Opazität in Transparenz übergehen.
Doch die Möglichkeit irgendeines solchen Szenariums kann, wie gesagt, nicht positiv bewiesen, sondern müsste dereinst erfahren werden. Die philosophische Theoriebildung (wie auf ihre andere Weise auch die mathematische) kann uns nicht lehren, welche Welten, abgesehen von der wirklichen, möglich sind, sondern nur, welche ausgedachten Welten Notwendigkeiten verletzen und daher unmöglich sind. Die Philosophie ist eine Theorie des Notwendigen und negativ des Unmöglichen und eine Theorie des Möglichen nur insoweit, als logisch lokale, begriffsrelative Möglichkeiten zur Debatte stehen. So sind etwa relativ zur Allgemeinheit der prädikativen Bestimmungen, um ein Beispiel zu nennen, das die Frage der raumzeitlichen Individuation betrifft, qualitativ identische und numerisch verschiedene Einzeldinge möglich. Ob aber eine komplette Welt möglich ist, in der es qualitativ identische Duplikate gibt, ist damit nicht entschieden. So ist es ferner möglich, dass Menschen auf Auslandsreisen erkranken, weil es wirklich schon geschehen ist; also mag es sinnvoll sein, Auslandskrankenversicherungen abzuschließen. Ob es aber eine mögliche Welt gibt, in der dieses bestimmte Individuum (oder sein modaler Konterpart) auf dieser bestimmten Auslandsreise (bzw. ihrem Konterpart) erkrankt, ist damit nicht entschieden. Leibniz durfte daher Kritikern seiner These, die wirkliche Welt sei die beste aller möglichen, mit Recht entgegenhalten, es sei prinzipiell ausgeschlossen, eine bessere – oder natürlich auch schlechtere – als die wirkliche Welt konkret als möglich auszuweisen. Angesichts dieser prekären Lage der philosophischen Spekulation dürfen wir dankbar dafür sein, dass die künftige Realität eines seligen Lebens um der Konsistenz der Vernunft willen postuliert werden muss, auch wenn wir nicht wissen können, wie sie möglich ist.
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1 | Kant, KpV, 225f. – Die Kritiken Kants werden im Folgenden unter den Siglen Kant, KrV, KpV und KU mit Angabe der Originalpaginierung zitiert. 2 | Kant, KrV, A 633f./B 661f. 3 | Kant, KpV, 238. 4 | Kant, KpV, 233. 5 | Vgl. David Lewis, On the Plurality of Worlds, Oxford/New York 1986, 3–5. 6 | Kant, KpV, 56. 7 | Kant, KU, 457. 8 | Kant, KrV, A 445/B 473. 9 | Kant, KrV, B 232. 10 | Vgl. Carl Christian Erhard Schmid, Versuch einer Moralphilosophie, Jena 1790/21792, § 260, 357ff. 11 | Vgl. Karl Leonhard Reinhold, Achter Brief. Erörterung des Begriffes der Freyheit des Willens, in: ders., Briefe über die Kantische Philosophie. Zweyter Band, Leipzig 1792, 262–308. 266–71 und 307f. 12 | AA 6:226 (Akademie-Ausgabe). 13 | Vgl. Anton Friedrich Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006, § 70. 14 | Aristoteles, Met. Γ 3, 1005b 23f. 15 | Aristoteles, EN, I 2, 1095a 17–21. 16 | Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 141977, § 65, 327. 17 | Ebd. 329. 18 | Vgl. Koch, Versuch (wie Anm. 13), §§ 55f., 398–409. 19 | Kant, KU, LVIII. 20 | Heidegger, Sein und Zeit (wie Anm. 16), § 18, 84. 21 | Kant, KpV, § 7, 54. 22 | Ebd., 56. 23 | Kant, RGV, 132 = AA 6:95. – Die Sigle RGV steht für „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Königsberg 1793/21794, die Sigle AA für die Akademieausgabe von Kants gesammelten Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 24 | Ebd. 25 | Enz, § 513. – Die Sigle Enz steht für Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Heidelberg 31830. 26 | Enz, § 514. 27 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1820, § 135 Anm. 28 | Enz, § 515. 29 | Ebd. 30 | Kant, KU, § 83, 389. 31 | Kant, RGV, 131 = AA 6:95. 32 | Kant, RGV, 132 = AA 6:95f. 33 | Vgl. ebd., 133 = AA 6:96. 34 | Ebd., 140 = AA 6:100. 35 | Vgl. ebd., 143f. = AA 6:101f. 36 | Ebd., 135f. = AA 6:97f. 37 | Ebd., 137 = AA 6:98. 38 | Kant, KpV, 220. 39 | Gotthold Ephraim Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin 1780, §§ 91–100. 40 | Vgl. in diesem Sinn Koch, Versuch (wie Anm. 13), § 45. 41 | Immanuel Hermann Fichte (Hg.), Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Bd. V, Berlin 1845/1846, 187 (Originalpaginierung 16). 42 | Johann Gottlieb Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, in: Fichte (Hg.), Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke (wie Anm. 41), 397–580. 530. 43 | Ich danke Mike Stange für diesen und andere Hinweise und eine Reihe von Korrekturen. 44 | Vgl. Bernard Williams, The Makropulos Case. Reflections on the Tedium of Immortality, in: ders., Problems of the Self, Cambridge (England) 1973, 82–100. 45 | Vgl. Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943/1984, 589–612; dt. Ausgabe: ders., Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (Hg. Traugott König), Hamburg 1993, 914–55. 46 | Fichte, Anweisung, (wie Anm. 42), 530. 47 | Ebd. 522. 48 | Vgl. Fichte, Anweisung, (wie Anm. 42), Fünfte Vorlesung, 461–75. 49 | Ebd. 470. 50 | Ebd. 51 | Ebd. 471. 52 | Vgl. Aristoteles, Met. Q 6, 1048b 18–34. 53 | Vgl. dazu Anton Friedrich Koch, Der Raum als allgemeines Bewusstseinsfeld, in: Markus Mühling/Ulrich Beuttler/ Martin Rothgangel (Hg.), Raum. Interdisziplinäre Aspekte zum Verständnis von Raum und Räumen (Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft, 34), Berlin 2022, 95ff.
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