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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/thq.2013.3.273-283
Bernhard Holl
30 Jahre nach dem Ende der Geschichte
Francis Fukuyama, der letzte Mensch und das christliche Geschichtsbild
Konsequenzen für die Kirchengeschichte

Manche historische Thesen, besonders in der Betrachtung der Weltgeschichte, haben weniger durch ihre fundierte Argumentation gewirkt als dadurch, dass ihre pointierte Formulierung bei den Zeitgenossen einen Nerv getroffen hat. Die Bedeutung von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“, Norbert Elias' „Prozess der Zivilisation“ oder auch Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ liegt wesentlich mehr in dem vielfachen Echo, dass ihre Grundthese provozierte, als in deren ausführlicher Begründung. Auch der bleibende Wert von Fukuyamas Abhandlung liegt daher womöglich weniger in ihrer zeitgebundenen Situationsanalyse als in den Annahmen, die ihr zugrunde liegen, und in den Fragen, die sie aufwirft. Die Annahme, die Weltgeschichte habe eine Richtung und ein Ziel, hat einen enormen Einfluss darauf, wie sie bis hin zu diesem Zielpunkt zu interpretieren ist. Wird dieses Ziel allerdings als bereits erreicht postuliert, gibt es umso weniger über die Zeit danach zu sagen. Jegliche Ereignisse nach dem mutmaßlichen Ende der Geschichte lassen sich zwar noch äußerlich beschreiben, aber nicht mehr als wirklich relevant verstehen. Vielleicht erklärt Fukuyamas Theorie an dieser Stelle selbst am besten, warum sie so viel Widerspruch geerntet hat: Die Idee, in einem posthistorischen Zeitalter zu leben, in dem es keine wesentlichen Entscheidungsmomente mehr gibt und es nur noch darum geht, dass Erreichte zu bewahren und zu vervollkommnen, geht wesentlich gegen den „Thymos“, das Selbstbewusstsein der Menschen, deren persönliche Mühen und Kämpfe dadurch ihre Bedeutung verlieren. Das Ressentiment des „Letzten Menschen“ richtet sich nicht so sehr gegen die Bedingung, sondern vielmehr gegen die Vorstellung eines nicht mehr zu steigernden Zustandes menschenmöglicher Vollkommenheit. Das Denken der christlichen Heilsgeschichte nach der Inkarnation hat dies in gewissem Maße dadurch kompensiert, dass sie auf das zweite Kommen Jesu Christi und das Weltgericht schaut und es zugleich in mehr und mehr Distanz zur Zeitenwende und zur eigenen Gegenwart sieht.

Eine ähnliche Weise, die Parusieverzögerung der globalen Demokratie gedanklich zu bewältigen, zeichnet sich in den Aufsätzen Fukuyamas nach 1989 ab. Allerdings scheint hier bislang kein definitives (zweites) Ende des Endes der Geschichte in Aussicht, während das abermalige Kommen Jesu Christi ein fester Bestandteil christlicher Soteriologie und Eschatologie ist. In der heutigen kirchengeschichtlichen Forschung freilich spielt dieses fundamentale Paradigma des christlichen Zeitbegriffs vordergründig keine Rolle. Bereits Autoren wie Walther Köhler, Hubert Jedin und Erwin Iserloh wehrten sich aus einem gewissen empirischen Pessimismus heraus ausdrücklich gegen den Begriff einer christlichen Fortschrittsgeschichte, obwohl sie durchaus noch Ziel und Sinn der Geschichte postulierten. Neuere Überlegungen zu Theorie und Methode der Kirchengeschichte wie die von Christoph Markschies oder Hubert Wolf sind womöglich noch zurückhaltender, was die etwa vom Glauben informierte Interpretation der Geschichte in universaler Perspektive angeht. Allzu leicht würde der explizite Rekurs auf Ziel und Richtung innerhalb der Geschichte den Eindruck dogmatischer Überdetermination erwecken. Nicht zuletzt, um die Anschlussfähigkeit an die akademische Geschichtswissenschaft außerhalb der Theologie zu gewährleisten, vermeiden Kirchenhistorikern daher in der Regel mit allen Mitteln auch nur den Anschein, sie würden eine „Erfolgsgeschichte der einen wahren Kirche“ schreiben. Das bedeutet freilich nicht, dass heutige kirchenhistorische Darstellungen gänzlich frei wären von der Vorannahme einer kohärenten, zielgerichteten Entwicklungsgeschichte. Gerade Überblickswerke zeigen gerne den „zweitausendjährigen Weg von der Urgemeinde in Jerusalem zur Weltkirche von heute“ und vermitteln dadurch (ungewollt?) den Eindruck eines weitgehend alternativlosen, nahezu schicksalhaften Prozesses. Das Apriori der Gegenwart, die als Erfüllung des Vergangenen verstanden wird, bleibt dabei gleichwohl unausgesprochen.

Verglichen mit dieser nüchternen Zurückhaltung auf Seiten der Theologen erscheint das Postulat Fukuyamas umso gewagter. Sein säkularer Glaube an einen universalen Prozess der Demokratisierung lässt sich zwar sozioökonomisch und psychologisch plausibilisieren, bleibt jedoch letztlich so subjektiv und unbeweisbar wie die christliche Erwartung des Jüngsten Gerichts. Dass seine These dennoch verhandelbar bleibt im Diskurs der scientific community, könnte daher auch der Kirchengeschichte zumindest eine etwas optimistischere Sicht auf die eigene theologische Dimension eröffnen. Es ist gewiss nicht notwendig, kann aber durchaus sinnvoll sein, Geschichte in Relation zu einer angenommenen Richtung und einem potenziellen Ziel wahrzunehmen. Die Vermutung einer zugrundeliegenden Entwicklung ist dabei letztlich vor allem der Kristallisationspunkt des eigenen erkenntnisleitenden Interesses. Eine solche reflektiert Distanz zur eigenen Perspektive liegt Francis Fukuyamas Ansatz gerade nicht zugrunde, da er seine eigene Interpretation der Zeitläufte als essenziell ansieht. Für die Kirchengeschichte als konfessionell definierte und dabei gleichzeitig hermeneutisch verantwortliche und interdisziplinär anschlussfähige Wissenschaft ist es hingegen unerlässlich, ein kritisches Bewusstsein des eigenen Geschichtsbildes zu bilden und zu kommunizieren. Wo dies nicht geschieht, geht sie mindestens das Risiko ein, dass unthematisierte Vorannahmen ihre Ergebnisse unterschwellig beeinflussen. Wo hingegen ein christlich-theologischer Deutungsrahmen bewusst sichtbar gemacht wird, da gewinnt Kirchengeschichte nicht nur an Transparenz, sondern auch an eigenem Profil im Diskurs der theologischen und nicht-theologischen historisch arbeitenden Geisteswissenschaften. [...]


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