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Leseprobe 3
Sascha Müller
Samuel von Pufendorfs Stärkung des neuzeitlichen Autonomiegedankens: Naturrechtliche Erkenntnis als actio humana

1. Die These: Stärkung der Autonomie durch Natur als Schöpfung

Samuel von Pufendorf (1632–1694) ist ein Zeitgenosse Thomas Hobbes’ (1588–1679) und John Miltons (1608–1674); die Epoche umgreift Absolutismus wie Aufklärung zugleich: Politik, Staat und Recht suchen im komplexen Geflecht neuzeitlicher Welteroberungen nach zum Überleben tragfähigen Legitimationsgeschichten. Das Programm der Selbstbehauptung und -erhaltung beschwört das Diktum der Vernunft (Hobbes) genauso wie theologische Argumentationsfiguren, die noch in der Gegenwart Anwendung finden: »Der Historiker Gerhard Oestreich († 1978) beruft sich in seiner ›Geschichte der Menschenrechte‹ auf John Milton († 1674): ›Wer einen Menschen tötet, tötet ein vernünftiges Wesen, ein Ebenbild Gottes‹; alle Menschen seien frei geboren, ›weil sie Ebenbild Gottes sind‹«. Milton, mit Politik und Recht vertraut, erkannte, dass sich Menschenwürde und Human Rights in einer Zeit des verlorenen Paradieses nur als Rühmung, als Diktum von Glaube, Hoffnung und Liebe überzeugend begründen lassen, also in einer Sprache, die nicht primär juristischen Ursprungs ist: »love refines / The thoughts, and heart enlarges«. Im Modus der Dichtung mögen Erweiterungen des Wollens und Erkennens sowie durch Liebe bewirkte Stärkung des Subjekts zur Bändigung jenes von Hobbes nach mechanischen Konstruktionsregeln beschriebenen Leviathan gelingen.

Doch welche Auswege aus diesem staatlich verfassten, auf überwachenden Argwohn hin ausgerichteten Schwächungs-Automatismus humaner Freiheit bieten – Pufendorf vertritt sie beide – (praktische) Philosophie und Jurisprudenz? Der Rekurs auf einen Naturzustand scheint nach Hobbes jedenfalls unmöglich zu sein; eine gangbare Lösung, die Freiheit als Freiheit (Autonomie) wirklich stärken will, muss Kultur sowie deren Pathologien einkalkulieren und zugleich Natur als beständig konditionierenden Ausgangspunkt aller Humanentwicklung im Blick behalten.

Unsere These hierzu lautet: Die Stärkung der Freiheit gelingt nur durch Freiheit, die in einem kreativen, also nicht willkürlichen, sondern schöpfungsgemäßen Akt der Interpretation (»actio hominis«) sich zur Autonomie hin aufklärt und dabei Natur als schöpfungsgemäßes Korrektiv für kulturell bedingte Hypertrophien wie Engpässe erkennt (z. B. exzessiver Eingriff in natürliche Vorgaben mit am Ende Freiheit schmälernden kumulativen Effekten und Fernwirkungen etc.). Somit korrespondieren für einen philosophischen Theismus, wie ihn z. B. Thomas von Aquin, aber auch Descartes oder Kant vertreten, menschliches Erkennen und welthafte Erkennbarkeit in grundsätzlicher Weise, d.h. kein alle humane Sinnhaftigkeit zersetzender Lügengeist (Descartes) führt das gnoseologische Regiment, sondern der schlechthin gute Ursprung von allem. Nur er kann Freiheit (theoretisch wie praktisch) zu authentischem Erkennen ermächtigen.

Pufendorf selbst nun erhält, indem er, durchaus mit dem Rückgriff auf antikes Gedankengut, das Paradigma Natur mit theistischem Vorzeichen versieht und zugleich naturrechtliche Erkenntnis als interpretatorische Leistung theistisch qualifizierter Vernunft (actio hominis / humana) fasst, entscheidenden Anteil an der Formung des neuzeitlichen Autonomieverständnisses. Pufendorf soll als Wegbereiter eines moralischen Idealismus im Stile Kants vorgestellt werden.

Immanuel Kant, der mit seinem prägnanten Autonomie-Konzept endgültig essentialistisch- absolutistische Legitimationsgeschichten verabschiedet, affirmiert die permanente Selbstaufklärung des Menschen, die keinen Ausfall des Schöpfungsgedankens sowie des darin implizierten Anspruchs auf Perfektibilität (jenseits irdischer Korrumpierungen) duldet. So gerät auch Spinozas Vermengung von Welt und Letztbegründung ins Visier der Kritik: Kant vermutet im »Spinozism« einen Mangel an Autonomie und Freiheit, also eine Unterminierung der Schöpfungsvorstellung. Diese Diagnose Schöpfungsnegation trifft, blickt man in die Zukunft, den Nerv der Autonomie: Ludwig Feuerbach (1804–1872) wird zwar von »autonomische[r] Tat« des Sprachwesens Mensch sprechen, aber bekanntlich die Aussicht auf jenseitige Perfektibilität als illusorische Projektion verwerfen. Umso wichtiger scheint es, einmal Kants Voraussetzungen des autonomen, vernunftmäßig sich selbst konturierenden Subjekts philosophiegeschichtlich – z. B. bis zu Descartes (1596–1650) – nach hinten zu verlängern und schöpfungstheologisch mit einem Denken zu explizieren, das Natur und Freiheit als existentielle Einheit zusammenbindet: Samuel von Pufendorf hat das Wort.

2. Freiheit als existentielle Innen-Perspektive

Pufendorf mag methodisch, also im Aufgreifen semantischer Topoi (z. B. Natur, Recht, Staat, Volk etc.), an Diskurse seiner Zeit (z. B. Thomas Hobbes, Erhard Weigel, Richard Cumberland) anknüpfen: So spricht er auch vom moralischen Intellekt des Menschen und von Regeln, um diesen für die Unterscheidung von gut und böse, gerecht und ungerecht, zuträglich und unzuträglich zu schärfen; das Programm des siebten Kapitels von Pascals existentiell orientierten Pensées klingt an. Doch bringt er inhaltlich klare Akzentuierungen ein, die bereits auf kommende idealistische Konzepte autonomer Freiheit (z. B. Kant) verweisen. Sprach noch Hobbes von einer Majestätsbeleidigung (»Crimen Læsæ Maiestatis«) gegenüber dem Staat, so fokussiert Pufendorf nicht in erster Linie das extrinsische Verhältnis verschiedener Vertragspartner, sondern den Anspruch sittlicher Freiheit selbst, – jenseits bestimmter politischer wie konfessioneller Bindungen. Freilich hat sich die Religion selbst am Ethos der unbedingten Würde des Anderen (auch in seiner rechtlichen Dimension) zu bewähren; und schmerzlich bricht hier für Pufendorf vor allem die interkonfessionelle Problematik auf, gezeichnet von Intoleranz und Verletzung der Humanität. Mit Verweis auf das Alte Testament mahnt Pufendorf zu einer umfassenden Kultur des Wohlwollens gegenüber jedermann, auch den Feinden: »Ast illud maxime omnium deplorandum videtur, quod ipsa quoque Christiana Religio, illa dilectionis, benignitatis, mansuetudinis magistra, quæ omnes sibi addictos suavissimo fraternitatis vinculo connectere debebat, (Conf. Gen. 50.17.) quæ etiam inimicos diligere, ac pro illis Deum orare jubet […]«.

Interessanterweise führten die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges Pufendorf nicht zur Vorstellung des Ungetüms Leviathan; vielmehr eröffnet er die Perspektive für ein autonomes Menschenbild, dessen Begründung im Gottesgedanken keine Konkurrenz für Freiheit, Natur und Recht darstellt. Die schöpfungstheologisch motivierte Autonomie entlastet das Subjekt von dem Gewicht äußerer Staats-Pakte und führt es in die existentielle Innensicht humanen Handelns: »Unter menschlicher Handlung verstehen wir hier keine (körperliche) Bewegung als Ausdruck der vitalen Konstitution des Menschen. Vielmehr geht es um jenen Geist-Vollzug, mit dem Gott, der allmächtige Schöpfer, den Menschen vor allen Tieren ausgezeichnet hat, um jenen Vollzug, der die Vernunft erhellt und den Willen (kommunikativ) lichtet«. Und genau diese existentielle, kommunikative Wendung gerät rasch aus dem hermeneutischen Blickfeld.

[...]


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