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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/thq.2016.1.139-160
Rolf Kühn
Eucharistie – Lebensidentität oder Leibfraktur?
Lebensphänomenologisches und dekonstruktivistisches Verständnis nach Michel Henry und Jean-Luc Nancy im Vergleich
Zusammenfassung
Eine phänomenologische Analyse der Wirklichkeit der Eucharistie impliziert einen Leibbegriff, der nicht mehr allein auf ein ontologisch-theologisches Verständnis der Inkarnation als In-korporation des Wortes Gottes in einem menschlichen Individuum zurückgreifen kann, sondern die Leiblichkeit als solche in ihrem originären Modus auszuweisen hat. Dazu dient die Lebensphänomenologie Michel Henrys, um über die selbstaffektive Einheit von Leben/Leib das Fleisch (chair) als jene christologische Grundgegebenheit zu verstehen, die in jeglichem subjektiven Tun als Können aufgrund eines in-karnatorischen Leibgedächtnisses bereits gestiftet ist. Die Eucharistie aktualisiert dann ein solches „Gedächtnis“ als ständige Präsenz der Selbsthingabe Christi in jedem Lebendigen. Von dieser Auffassung wird das dekonstruktivistische Verständnis von Eucharistie und Christentum bei Jean-Luc Nancy abgesetzt, der jedes Leibsein nur als „Fraktur“ verstehen möchte und damit zur Selbstauflösung des christlichen Identitätsdenkens im Sinne von „Dies ist mein Leib“ aufruft. Insgesamt werden so über die zentrale Frage der Eucharistie die Bemühungen in der neueren französischen Phänomenologie nachvollziehbar, einen neuen Zugang zur originären Leiblichkeit zu erarbeiten.

Abstract

A phenomenological analysis of the reality of the Eucharist implies a concept of body which cannot merely resort to an ontological-theological understanding of the incarnation as an in-corporation of the Word of God in a human individual, but must reveal corporeality as such in its original mode. Michel Henry’s phenomenology of life serves the purpose of understanding flesh (chair) through the auto-affective unity of life/body as that fundamental Christological fact that has already been provided in every subjective action as ability by virtue of an in-carnational body memory. The Eucharist then actualizes such „memory“ as an ongoing presence of Christ’s self-giving in every living being. The deconstructivistic understanding of the Eucharist and Christianity in the work of Jean-Luc Nancy is set off against this view. It seeks to understand every embodiedness as a „fracture“and thus calls for the self-dissolution of Christian identittarian thinking in the sense of “this is my Body.” Taken together, the endeavours in more recent French phenomenology to work out a new approach to original corporeality are thus comprehensible by way of the central question of the Eucharist.

Schlüsselwörter – Keywords
Eucharistie; Gedächtnis; Gegenwart; Historialität; Freude/Leid; Leben; Leib/Fleisch; Passibilität; Text; Wort des Lebens Eucharist; memory; present time; historiality; joy/sorrow; life; body/flesh; passibility; text; word of life

Unter den jüngeren phänomenologischen Untersuchungen zur Frage der Eucharistie lassen sich drei Ansätze nennen, die an unterschiedliche Voraussetzungen in den reduktiven Grundentscheidungen gebunden sind. So geht Michel Henry (1922–2002) von einer material-phänomenologischen Leiblichkeit als Selbstaffektion, Pathos oder Fleisch aus, Jean-Luc Marion (geb. 1946) vom originären Verhältnis der Gegebenheit (donation) und deren Entfaltung in einer prinzipiellen Kluft zwischen Selbsterscheinen und Erscheinendem sowie Jean-Luc Nancy (geb. 1940) von der dekonstruktiven Fraktur jeglichen Sinnes als Nicht-Identität. Wir werden im Folgenden auf alle drei Positionen eingehen, aber hauptsächlich die lebensphänomenologische Analyse nach Henry aufgreifen, da sie in der radikalen Bestimmung jeglicher phänomenologischen Leiblichkeit wohl am weitesten vorgedrungen ist und für sein Denken auch ausdrücklich eine „Affinität“ oder sogar „Kongruenz“ mit der Selbstoffenbarung Gottes und der Inkarnation Christi in Anspruch nimmt.

1. Das „Gedächtnis“ des Leibes Christi als „Tun“


Der Evangelist Lukas fügt nach den Einsetzungsworten der Eucharistie, die das Brot in Christi Leib verwandeln, die Aufforderung Jesu beim letzten Abendmahl vor seinem Leiden hinzu: „Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ (22,19) Paulus greift im 1. Korintherbrief die schon von ihm vorgefundene tradierte Gemeindepraxis der Eucharistiefeier auf und wiederholt den Gedächtnisauftrag sowohl bei der Verwandlung des Brotes wie des Bechers. Ist dieser Gedächtnisauftrag beim Brot mit dem Lukastext identisch, so lautet die Formulierung beim Wein: „Dies tut, sooft ihr ihn trinkt, zu meinem Gedächtnis!“ (11,24–25) Bei den Evangelisten Matthäus und Markus tritt an die Stelle des Gedächtnisauftrags Jesu eschatologischer Ausblick auf die Vollendung im Reiche Gottes, welche in der Wiederholung der Eucharistie durch die Jünger und späteren Gemeinden bis heute gläubig antizipiert wird: „Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, an dem ich es mit euch neu trinken werde im Reiche meines Vaters.“ (Mt 26,29; par Mk 14,25) Die Worte Jesu, sein Gedächtnis als den in seinem Leiden hingeopferten Christus zu feiern, wie es der Verweis auf das „Bundesblut“ einschließt (Mt 26, 28; par Mk 14, 24 u. Lk 22, 20), sind daher nicht nur als die Institution eines sakramentalen Aktes zu verstehen, der die Eucharistie begründet, sondern die Worte Jesu werden in gewisser Weise durch ein Tun ersetzt oder finden in diesem erst ihre effektive Weiterführung, wie wir durch die Kursivierungen im Evangelientext selbst oben hervorheben wollten. [...]


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