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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/thq.2018.3.163–182
Wilfried Eisele
„Der große Wurf“
Vom lukanischen Ideal, „eines Freundes Freund zu sein“
[...]

3. Gott und seine Freunde


Freundschaft prägt aber nach Lukas nicht nur die menschlichen Beziehungen innerhalb der christlichen Gemeinde, sondern auch die Beziehung der Jünger und Jüngerinnen Jesu zu ihrem Gott. Darum geht es im Gleichnis vom barmherzigen Vater, das in dem Schicksal der beiden Söhne unterschiedliche Entwicklungen der Gottesbeziehung darstellt. Dabei ist freilich zu beachten, dass Freundschaft im antiken Verständnis das Autoritätsgefälle zwischen Eltern und Kindern in keiner Weise aufhebt. In der gesellschaftlichen Hierarchie müssen Freunde keineswegs auf der gleichen Stufe stehen. Sie müssen einander nur bereitwillig zukommen lassen, was ihrer Stellung dem anderen gegenüber entspricht, um so die von der Freundschaft geforderte Gleichheit auch zwischen ungleichen Partnern herzustellen. Allerdings gibt es nach Aristoteles eine Grenze, wenn der Unterschied zwischen beiden zu groß wird:

„Indes bedeutet ‚Gleichheit‘ in Dingen des Rechts und in der Freundschaft nicht dasselbe. […] Dies tritt klar hervor, wenn ein beträchtlicher Abstand in Hinsicht auf charakterliche Trefflichkeit oder Minderwertigkeit oder Wohlstand usw. gegeben ist. Denn dann sind sie keine Freunde mehr, ja, Freundschaft zu beanspruchen kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Am schärfsten fällt dies in die Augen bei den Göttern, denn sie stehen am weitesten über uns, da ihnen alle Güter zu eigen sind. Aber auch bei den Königen tritt es klar hervor. […] Eine scharfe begriffliche Festlegung, bis zu welcher Grenze Freunde noch Freunde sind [ἕως τίνος οἱ φίλοι], gibt es in solchen Fällen allerdings nicht. Es kann (von der einen Seite) vieles weggenommen werden und es ist immer noch Freundschaft, ist aber der Abstand sehr groß geworden, z. B. bei der Gottheit, so ist es keine mehr.“

Trotz dieses apodiktischen Urteils, das Freundschaft zwischen Gott und Mensch kategorisch ausschließt, setzt Aristoteles wenig später voraus, dass es genau solche Freundschaft gibt:

„Die Freundschaft der Kinder zu den Eltern und der Menschen zu den Göttern bedeutet Freundschaft zu etwas Wertvollem und Überlegenem. Denn sie (die Eltern) sind die Spender der größten Wohltat: ihnen verdanken die Kinder Leben und Nahrung und dann auch Erziehung.“

Der Übersetzer Franz Dirlmeier wertet diese Aussage als Zugeständnis an die „Volksmoral“. Ein Widerspruch bestehe nur scheinbar, weil Aristoteles auch hier den Abstand zwischen Gott und Mensch betone. Die Inkonsistenz ergibt sich jedoch an einem anderen Punkt, nämlich der gegensätzlichen Antwort auf die Frage, ob der unendliche Abstand zwischen Gott und Mensch Freundschaft zwischen ihnen unmöglich macht. Zuerst bejaht Aristoteles diese Frage explizit, später verneint er sie implizit. Dirlmeier vermutet wohl richtig, dass Aristoteles zu seiner zweiten Stellungnahme durch die Erwähnung der Eltern verleitet wird. Denn in der griechischen Gnomik, die ethische Maximen in kurzen Sprüchen überliefert, wird das Verhältnis zu Gott und zu den Eltern vielfach analog gesetzt, z. B. bei (Pseudo-)Menander: „Ehre zuerst Gott, an zweiter Stelle die Eltern“, oder beim jüdischen Pseudo-Phokylides: „Zuerst Gott ehren, sodann aber deine Eltern“. Der biblische Dekalog folgt übrigens derselben Logik: Der Verehrung des einen Gottes entspricht die Ehrerbietung gegenüber den Eltern als erstes der auf Menschen bezogenen Gebote (Ex 20,2f.12; Dtn 5,6f.16). [...]


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