Erwachsene waren auch einmal Kinder! Eine reine Binsenweisheit? Nicht, wenn man davon ausgeht, dass bestimmte Kindheitserlebnisse auch erwachsene Personen noch prägen. Dann begegnen erwachsene Religionslehrerinnen in Bildungs- und Erziehungsprozessen nicht nur Kindern und Jugendlichen, sondern immer auch sich selbst, sie bilden und erziehen immer auch „das Kind, das sie selber waren“, genauer: Das Kind, das sie gerne gewesen bzw. nicht gewesen wären.
Diesen Zusammenhängen geht man u. a. in der Tiefenpsychologie bzw. der psychoanalytischen Pädagogik und der tiefenpsychologisch orientierten Religionspsychologie nach. Ich wähle eine Theorie, die zwar für die Pastoralpsychologie fruchtbar gemacht wurde, aber für die religionspädagogische Psychologie und die Frage nach der Lehrer- und Religionslehrerpersönlichkeit noch kaum: Die von Fritz Riemann dargestellten Grundstrukturen der Persönlichkeit, die im Unterschied zu anderen Modellen durch ihre Einfachheit besticht. Einführend unternehme ich notwendige Begriffsklärungen und lote konvergierende Optionen zwischen Riemanns Persönlichkeitsstrukturmodell und Religionspädagogik bzw. Theologie aus (1.). Sodann erläutere ich die vier Strukturen von Religionslehrpersonen (2) und ziehe religionspädagogische Konsequenzen (3).
1 Einführung
Da bisher Riemanns Modell vorwiegend im Sinne der Nützlichkeit in die Religionspädagogik bzw. Theologie übernommen wurde und eine Verhältnisbestimmung im Sinne konvergierender Optionen weitgehend fehlt, unternehme ich diese (1.2). Zuvor sind jedoch notwendige Begriffe zu klären (1.1).
1.1 Begriffsklärungen
Professionalität und Professionalisierung: Professionalität bezieht sich „auf das professionelle Handeln von Personen in einem abgegrenzten Bereich“, hier also der Schule und dort v. a. dem (Religions)Unterricht. „Professionalisierung bezeichnet den Prozess, der zu […] Professionalität hinführt.“ Ziel ist die „Ausbildung hochverdichteter professioneller Handlungsmuster, […] die routinisiertes Handeln in komplexen Situationen ermöglichen“. Da diese Handlungsmuster immer auch von der Lehrerpersönlichkeit abhängig sind, kann individuelle Professionalisierung über „biografische Selbstreflexionen“ erfolgen, indem der „Stellenwert der eigenen Biografie, ihre Vorgaben, Begrenzungen und Chancen in der Religionsdidaktik“ ausgelotet werden.
Person und Persönlichkeit: Trotz umfangreicher Diskussion lassen sich Person und Persönlichkeit nicht abschließend definieren. Obwohl sie alltagssprachlich synonym gebraucht werden, ist ihre theoretische Unterscheidung von großer Bedeutung, denn schlagwortartig kann man sagen: Person ist man schon immer, aber zur Persönlichkeit muss man erst werden. Die Persönlichkeit einer Person kann man verstehen, als „die relativ zeitstabile Organisation seiner motivationalen Dispositionen sowie der integrativen Anpassungsleistung, die durch die Interaktion zwischen seiner inneren Welt und seiner Umwelt entstehen“. Damit besteht die Persönlichkeit aus einer relativ stabilen Struktur und veränderbaren Prozessen. Beide beziehen sich auch auf die Vergangenheit. Die Persönlichkeitsstruktur einer Person ist allerdings kaum zu fassen, weil sich erstens ein Mensch „im Laufe seiner Lebensgeschichte immer wieder verändert, […] weil zweitens die Persönlichkeit Ecken und Kanten hat, also viel zu komplex ist, als dass sie auf einen Nenner gebracht werden könnte und vor allem drittens, weil eine Persönlichkeit durchaus versteckte“ respektive verdrängte Elemente aufweist. Dieser Einschränkungen eingedenk, beschreibt Riemann ein der Neopsychoanalyse verpflichtetes Persönlichkeitsstruktur-Modell.
Reflex und Reflexion: Reflex ist eine unwillkürliche Muskelkontraktion, ausgelöst durch einen äußeren Reiz, aber ebenso ein Widerschein bzw. eine Rückstrahlung. Letzteres ist auch die Grundbedeutung von Reflexion als Reflektieren, nämlich das „Zu rückwerfen“ von Wellen aller Art (= physikalisches Bild). Reflektieren (lat. reflectere) kann auch „umwenden, sich zurückbeugen“ bedeuten. Reflektieren ist hier die Bewegung eines Subjektes, das sich ‚zurückbeugt‘ (= Bewegungsbild), räumlich (hinter dem Rücken) wie zeitlich (Vergangenheit). Die hier enthaltene Beobachterperspektive ist auch in der dritten Bedeutung enthalten, dem „Nach-Denken“ (= mentales Bild). Die Bewegung erfolgt hier im reflektierenden Subjekt. Denkt dieses selbst nach, handelt es sich um Selbstreflexion, die grundsätzlich auf Selbsterkenntnis zielt. Doch das ist schwierig, da Selbsterkenntnis auch unangenehm sein kann. Für unseren Zusammenhang ist Selbstreflexion v. a. auf die professionelle Persönlichkeit ausgerichtet. Doch auch diese kann schmerzlich sein, weshalb sie manche meiden oder in Selbstmitleid verfallen. Mit der Zusage Gottes, ganz von Gott akzeptiert und geliebt zu sein, könnte die Selbstreflexion leichter werden, zumal sie die Annahme der Zusage erleichtern könnte. Ziel der Selbstreflexion ist die zunehmende Professionalisierung durch Selbstkorrektur unter Wahrung der Freiwilligkeit (im Unterschied zum Reflex), damit der „Zusammenhang von Beobachtendem, Beobachtung und Beobachtetem in der Denkbewegung des Subjekts.“ bewahrt wird.
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