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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/thq.2024.3.248–264 |
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Oliver Sensen |
Der Kategorische Imperativ und seine Formulierungen |
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Zusammenfassung Ist Kants Ethik auch heute noch relevant? Kant beantwort die Frage: ‚Was soll ich tun?‘ mit fünf verschiedenen Formeln des Kategorischen Imperativs, und er sagt, dass die verschiedenen Formeln einerlei und nur so viele Varianten desselben Gesetzes seien. Die Kant-Literatur ist oft skeptisch, dass man aus dem Imperativ zuverlässig konkrete Pflichten ableiten kann und dass die Formeln equivalent seien. In diesem Aufsatz lege ich zunächst berühmte Einwände dar, die nahelegen, dass die verschiedenen Formeln keine gute Methode darstellen, um Kants Frage zu beantworten. Danach argumentiere ich, dass Kants Text noch eine weitere Methode enthält, die wir auch heute noch anwenden, wenn wir neue moralische Regeln entwickeln, z. B. während einer Pandemie. Im Anschluss verteidige ich die alternative Methode gegen die Standardeinwände. Die alternative Methode kann den Einwänden gegen Kants Ethik sehr viel besser begegnen und auch Kants These, dass die Formeln equivalent seien, erklären.
Abstract Is Kant’s ethics a reliable guide to moral action? Kant presents five formulas of the Categorical Imperative to help us find an answer for what we should do. He argues that the five formulas are at bottom the same expression of the fundamental law. However, even Kant scholars sympathetic to his views often reject that any of the formulas is a reliable action guide, and they reject the view that the formulas express the same idea. Firstly, I present some of the famous objections that have been raised against Kant’s method for deriving concrete duties from the Categorical Imperative. I then argue that Kant’s texts present another method, and that we still employ this alternative method in contemporary situations, for instance when we come up with new rules after the outbreak of a global epidemic. I conclude by defending the alternative method against the common objections and argue that this method can also explain Kant’s argument that the different formulas express the same idea.
Schlüsselwörter/Keywords Kant; Kategorischer Imperativ; Humanitätsformel; Pandemie-Ethik; Äquivalenz; Kant’s Standardverfahren Kant; Categorical imperative; formula of humanity; pandemic ethics; equivalence; CI- procedure
1. Einleitung
Auch 300 Jahre nach seinem Geburtstag ist Kants Ethik noch immer von zentraler Bedeutung. So finden wir seine moralischen Begriffe nicht nur in akademischen Disziplinen als z. B. der philosophischen Ethik, der Bio- und Medizinethik, dem Recht oder den Politikwissenschaften, sondern auch in der Alltagsmoral. Zudem finden wir nicht nur eine von Kants Ideen, sondern gleich mehrere. Die Bedeutung von Kant ist so groß, dass z. B. Derek Parfit sagt, Kant habe uns in weniger als 40 Seiten der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [GMS] mehr neue Ideen für unsere Zeit gegeben als mehrere Jahrhunderte zuvor. Mit seiner Aussage bezieht sich Parfit auf Kants Kategorischen Imperativ und seine verschiedenen Formulierungen.
Kant präsentiert eine Hauptformel des obersten Moralgesetzes, (I) den Kategorischen Imperativ: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, AA 4:421). Um aus dem Imperativ konkrete Pflichten abzuleiten, führt er eine untergesetze Version ein, (Ia) die Naturgesetzformel: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“ (GMS, AA 4:421). Wenige Seiten später in derselben Grundlegung finden wir (II) die Menschheits- oder Objektformel: „handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS, AA 4:429)
Nur kurz danach im selben Text wechselt Kant zwischen zwei auf den ersten Blick unterschiedlichen Formeln, der Autonomieformel (III), d. i.: „keine Handlung nach einer andern Maxime zu thun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“ (GMS, AA 4:434) sowie der Formel der Reich der Zwecke (IIIa): „handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.“ (GMS, AA 4:438)
In weniger als vierzig Seiten, finden wir das Prinzip der Verallgemeinerung, die Idee der Menschheit als Zweck an sich, die Betonung der individuellen Autonomie sowie eines Reichs der Zwecke. Dabei ist es nicht so, dass Kant immer der erste war, der diese Ideen hervorgebracht hat. Wir finden schon vor Kant verschiedene Versionen von Verallgemeinerungen, nicht zuletzt die Goldene Regel. Auch die Wichtigkeit der Menschheit oder ihre Würde finden wir schon vor Kant. Kant scheint der Erfinder der individuellen Autonomie zu sein, aber als politischen Begriff verweisen auch frühere Autoren auf die Autonomie. Schließlich zitiert Kant selber Augustinus und Leibniz als Vorgänger für den Gedanken eines Reichs der Zwecke oder Gnaden (vgl. Kritik der reinen Vernunft [KrV] A812/B840; Vorlesung Moral Mrongovius II [MM II], AA 29:629, 610). Aber auch, wenn Kant nicht unbedingt der erste war, der diese Ideen eingeführt hat, und auch falls es nicht unbedingt Kant war, durch den Ideen wie Achtung und Respekt einflussreich geworden sind, so wenden wir uns doch heute vor allem Kant zu, wenn wir die Relevanz dieser Ideen besser verstehen wollen. Das gilt nicht nur für die Verallgemeinerungsidee als eines Prozesses der Fairness, sondern vor allem auch für die Idee der Achtung gegenüber anderen und ihrer Autonomie. So ist Kants Objektformel ein Leitfaden für die Interpretation des deutschen Grundgesetzes. Aber wir beziehen uns auch auf Kant für die Interpretation der Grundideen der Bioethik oder der Menschenrechte. [...]
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