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Leseprobe 1 DOI: 10.14623/thq.2018.3.146–162
Heiner Bielefeldt
Religionsfreiheit als heilsame Provokation
Dankesrede anlässlich der Verleihung des Alfons Auer-Ethik-Preises
Zusammenfassung
Die Religionsfreiheit gilt als ein „klassisches“ Menschenrecht, alt-etabliert, rechtlich fest verankert und weithin anerkannt. Tatsächlich enthält sie überraschende Provokationen: für den Staat, für die liberale Gesellschaft und für die Religionsgemeinschaften. Gegenüber dem Staat, insbesondere dem autoritären Staat, markiert sie verbindliche Grenzen religionspolitischen Zugriffs. Innerhalb der Gesellschaft erinnert sie daran, dass Freiheit nicht nur eine Lifestyle-Angelegenheit ist, sondern existenzielle Fragen betreffen kann. Für die Religionsgemeinschaften, darunter die Katholische Kirche, bietet die Religionsfreiheit Anlass, das moderne Freiheitsethos systematisch ernst zu nehmen und in den Glauben kritisch zu integrieren.

Summary
Freedom of religion or belief radiates the aura of a „classical“ human right: it is wellestablished, deeply anchored in legal standards and widely recognized. At a closer look, however, freedom of religion or belief harbours provocative potential for state, society and Church. Against authoritarian state interventions, it demarcates a legally protected sphere of religious freedom. Within liberal society, freedom of religion or belief may serve as a reminder that freedom is not just a lifestyle issue; it may incur existential demands. For religious communities, including the Catholic Church, religious freedom can become a bridge to encounter and critically appreciate the modern ethos of freedom.

Schlüsselwörter – Keywords
Alfons Auer; Religionsfreiheit; Menschenrechte; Freiheitsethos Alfons Auer;
freedom of religion; human rights; ethos of freedom

Zunächst möchte ich allen ganz herzlich danken, die daran mitgewirkt haben, dass ich heute Abend zu Ihnen sprechen darf. Mir ist dies eine große Ehre – und mehr noch eine große Freude. Mein Dank gilt natürlich insbesondere der Katholisch-Theologischen Fakultät, hier repräsentiert durch die Dekanin Johanna Rahner, die den Alfons Auer-Ethik-Preis zusammen mit der Katholischen Akademie Stuttgart-Hohenheim verleiht. Die Auszeichnung, die Sie mir zugedacht haben, bedeutet mir sehr viel, und ich weiß mich Ihnen sehr verpflichtet. Ich sehe darin eine Brücke zu möglichen künftigen Kooperationsprojekten mit der Fakultät. Was da für ein Potenzial besteht, konnte ich gestern auf dem ganztägigen Workshop erleben, den die Fakultät aus Anlass dieser Veranstaltung unter Leitung des Kollegen Matthias Möhring-Hesse durchgeführt hat. Die Dichte der Gespräche war beeindruckend. Es freut mich, Dietmar Mieth wiederzusehen, den ich ganz am Ende meiner Tübinger Studienzeit schon kennenlernen durfte. Ich danke Ihnen, Herr Mieth, für die Erinnerungen an Alfons Auer, dessen Leben und Werk durch Ihren Vortrag einmal mehr lebendig wurde. Möglich war das gesamte Projekt des Alfons Auer-Ethik-Preises dadurch, dass sich ein Stifter fand, nämlich Siegfried Weishaupt, dem ich ebenfalls ganz herzlich danken möchte. Wenn ich das richtig verstanden habe, Herr Weishaupt, haben Sie Alfons Auer schon in ihrer Jugend gekannt und erlebt. Über diese biographische Verbindung hinaus engagieren Sie sich in vielfältiger Weise in der Förderung von gesellschaftspolitischen und künstlerischen Projekten, was ich großartig finde. Vielen Dank für all das! Die beiden Musiker, Mathis Hilsenbeck und Sebastian Nöcker, die den Saal zum „Swingen“ gebracht haben, erinnern mich an meine eigenen musikalischen Jugendprojekte, in denen ich es aber nicht annähernd zu ähnlicher Meisterschaft gebracht habe. Wunderbar, dass Sie mit Ihren Mitteln unserer Feier Rhythmus verleihen! Ganz besonders danken möchte ich Marianne Heimbach-Steins für die Laudatio. Ein Stück weit fallen die freundlichen Komplimente, die Du, liebe Marianne, mir da erteilt hast, auch auf Dich selbst zurück. Das eine oder andere Projekt haben wir ja gemeinsam gestemmt. Dazu zählt die Veranstaltung zur Religionsfreiheit in Bamberg, zu der wir die Teilnahme der damaligen UN-Sonderberichterstatterin für Religionsfreiheit, Asma Jahangir gewinnen konnten. Das war im Frühjahr 2009 und ein unvergessliches Erlebnis. Dass ich ein gutes Jahr später Asmas Nachfolge antreten würde, hätte ich nicht im Traum gedacht. Auch bei diesem größten politischen Abenteuer meines Lebens stehst Du also mit am Anfang. Deine Rede nehme ich sehr gern zum Anlass, Dir für all die Jahre der Freundschaft und Kooperation herzlich Dank zu sagen. Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren, danke ich für das Interesse an dieser Veranstaltung, vor allem am Thema Religionsfreiheit, über deren Provokationspotenzial ich gleich sprechen möchte. Zuvor aber noch einige persönliche Reminiszenzen.

1. Erinnerungen an Alfons Auer und Johannes Schwartländer

Mit Alfons Auer verbinde ich starke persönliche Erinnerungen. Dazu gehören die Lehrveranstaltungen, von denen viele um das Thema „Autonome Moral im Horizont des christlichen Glaubens“ kreisten. Dass es für das Zusammenleben in der pluralistischen Gesellschaft unumgänglich sei, moralische Orientierungen auf eigene, gleichsam „säkulare“ Füße zu stellen, ohne das „Proprium“ des Christlichen damit zur belanglosen Privatsache zu erklären, leuchtete uns jungen Theologiestudierenden damals unmittelbar ein. Wir sahen das irgendwie genauso, hatten es aber nie annähernd klar formuliert und in den Konsequenzen durchdacht. Die Impulse aus der Auer-Vorlesung wirkten deshalb intensiv nach und führten zu vielen Diskussionen – auch abends im Biergarten. Wer es genauer wissen wollte, griff zu Auers Schriften, von denen einige zu unserer selbst auferlegten studentischen Pflichtlektüre gehörten. Nach Ende meines Studiums blieb Alfons Auer stets präsent – wenn auch eher indirekt. Mein akademischer Lehrer Johannes Schwartländer, den ich bewusst mit dem inzwischen ziemlich altmodisch klingenden Begriff des Doktorvaters belegen möchte und den ich bis zu seinem Tod regelmäßig besuchte, war mit Alfons Auer freundschaftlich verbunden. In all unseren Gesprächen fiel der Name Auer. Schwartländer schätzte ihn als Mensch, als Priester und als akademischen Gesprächspartner. Seinem eigenen Beitrag für die Auer-Festschrift gab er den Titel „Nicht nur autonome Moral, sondern Moral der Autonomie“. Schwartländer wollte Auer darin ermutigen, die Autonomie noch radikaler zu denken – nicht nur als eine gegenüber dem christlichen Glauben eigenständige Ebene vernünftiger Orientierung und Verständigung in moralischen Fragen, sondern als unbedingten Anspruch moralischer Verantwortung, unter dem der Mensch sich vorfindet – kurz: als kategorischen Imperativ. Schwartländer kam dezidiert von Kant her, während Auers Autonomieverständnis in den Bahnen einer kritischen Neulektüre des Thomas von Aquin verlief – so jedenfalls Schwartländers Einschätzung. In den jahrzehntelangen Diskussionen zwischen den beiden Tübinger Professoren begegneten sich insofern zwei altehrwürdige Schulen europäischer Moralphilosophie. Diese Begegnungen fanden im Geiste wechselseitiger Wertschätzung statt. Johannes Schwartländer sprach stets mit Hochachtung von seinem Freund Alfons Auer, mit dem er – bis zu dessen Tod – eine wunderbare Gesprächskultur gepflegt hatte. Ein bisschen konnte ich bis zuletzt davon profitieren.

Meine Beziehung zu Auer erschöpft sich nicht in biographischen Reminiszenzen. Vielleicht wichtiger noch ist ein Sachzusammenhang, bei dem wiederum Johannes Schwartländer die Rolle des akademischen Mittlers und Maklers spielt. Knapp zusammengefasst, geht es um das Verhältnis von Glaube und Freiheit. Dieses Verhältnis hat viele Facetten; man kann es drehen und wenden und dabei immer wieder neue Aspekte entdecken. Echter Glaube braucht Freiheit; er kann nur in Freiheit ergriffen werden und gedeihen. Im Gegenzug gilt, dass eine freiheitliche Gesellschaft dem Glauben in der Vielfalt seiner Manifestationen angemessenen Raum geben muss. Es sollte deshalb ein Anliegen der Glaubenden sein, für die Glaubensfreiheit in der Gesellschaft einzutreten – nicht nur für die eigene Freiheit, sondern für die Freiheit aller. Dies wiederum ist nur ein Beispiel dafür, dass die Ernsthaftigkeit religiösen Glaubens sich auch in der Verantwortung für die Gesellschaft bewährt, was die Möglichkeit der Verständigung über Glaubensgrenzen hinweg voraussetzt. Damit wären wir dann bei Auers engerem Thema angelangt: der autonomen Moral im christlichen Horizont. Christlicher Glaube kann sich nach Auer nicht in einen kirchlichen Binnenraum einschnüren; er drängt über alle Grenzen hinaus und manifestiert sich vor allem in Akten der Solidarität. Dafür braucht es die Bereitschaft zum Gespräch mit Andersgläubigen und Nichtgläubigen. Genau dazu hat Auer ermutigt. Ein Glaube, der ängstlich darum kreist, dass ihm in der Auseinandersetzung mit anderen das christliche Proprium nicht entgleiten möge, kann schwerlich gesellschaftliche Gestaltungskraft entfalten. Die Relevanz des Christlichen bleibt demgegenüber am besten dadurch gewahrt, dass der Glaube Horizonte erweitert und Grenzen aufsprengt. Glaube muss „weltfähig“ sein und sich auf die moderne Gesellschaft affirmativ und kritisch zugleich einlassen. Dies war ein zentrales Thema auch in den Gesprächen zwischen Alfons Auer und Johannes Schwartländer und in diesem Ziel fühlten beide einander sehr verbunden. Vermittelt über Auer und insbesondere Schwartländer ist die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Freiheit auch für mich zum Lebensthema geworden. Mein spezifischer Zugang verlief dabei über die Menschenrechte. Bereits in den 1970er Jahren hatte Johannes Schwartländer sein „Interdisziplinäres Forschungsprojekt ‚Menschenrechte‘“ aufgebaut, in das ich 1983 als Mitarbeiter mit einsteigen konnte. Zu dieser Zeit hatte kaum jemand gedacht, dass es in Zukunft einmal Lehrstühle für Menschenrechte geben würde; das Themenfeld war akademisch noch kaum erschlossen. Insofern war Schwartländer ein Pionier. Von Anfang an suchte er das interdisziplinäre Gespräch, vor allem zwischen Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft. Im Konzert der unterschiedlichen Menschenrechte fand die Religionsfreiheit sein besonderes Interesse; denn bei keinem anderen Menschenrecht gewann die interdisziplinäre Auseinandersetzung vergleichbare Intensitätsgrade. Schon damals lud Schwartländer übrigens neben den christlichen Theologen auch muslimische Intellektuelle zum Gespräch ein. Vor fünfunddreißig Jahren war das ein geradezu avantgardistisches Unterfangen.

Von Schwartländer „angesteckt“, hat mich das Thema Menschenrechte seitdem nicht losgelassen. Wichtig war mir dabei immer die Verbindung akademischer Reflexion mit politischer Praxis. Über viele Stationen hinweg, die ich hier nicht näher anführen möchte, wurde ich schließlich – völlig überraschend – zum UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit ernannt. Die Tübinger Prägung – die Kultur des genauen Hinhörens, der sorgfältigen Differenzierung zentraler Kategorien und der reflektierten Positionierung – hat dazu beigetragen, dass ich in den oft verwirrenden, manchmal polarisierten und ideologisch aufgeheizten UN-Debatten in Genf und New York den Kopf nicht verloren habe. Wenn ich heute Abend hier in Tübingen zu Ihnen sprechen darf, schließt sich ein Kreis. Meine Danksagung greift deshalb tief zurück und richtet sich auch an meine verstorbenen Tübinger akademischen Lehrer.

Im Folgenden möchte ich darüber sprechen, dass der Religionsfreiheit ein oft unterschätztes Provokationspotenzial innewohnt, und zwar für Staat, Gesellschaft und Kirche. Dass ich mit dem Staat beginne, ist dem Charakter der Religionsfreiheit als Menschenrecht geschuldet. Menschenrechte adressieren vor allem (wenn auch keineswegs exklusiv) den Staat, dem nach internationalem Recht die Rolle ihres förmlichen Garanten zukommt. Der Staat hat die Menschenrechte – darunter auch die Religionsfreiheit – zu achten und zu schützen und darüber hinaus die Bedingungen ihrer wirksamen Gewährleistung zu schaffen. Darin besteht eine bleibende Herausforderung, auf die vor allem autoritäre Staaten mit Blockaden und ideologischen Verdrehungen der Religionsfreiheit reagieren (vgl. Abschnitt 2). Innerhalb der liberalen Gesellschaft entfaltet die Religionsfreiheit ebenfalls provokatives Potenzial. Sie fungiert nicht zuletzt als beständige Erinnerung daran, dass der Anspruch der Freiheit weiter reicht und tiefer geht als das, was in unterschiedlichen liberalen Milieukontexten womöglich als normal gelten mag. Daraus resultieren gelegentlich Friktionen – man denke nur an die Debatte zum Thema „Knabenbeschneidung“, die in Deutschland und anderswo vor einigen Jahren hohe Wellen geschlagen und manche Verletzungen verursacht hat (vgl. Abschnitt 3). Schließlich stellt die Religionsfreiheit Anforderungen an die Religionsgemeinschaften selbst, darunter an die Katholische Kirche. Bekanntlich hat sich die Kirche mit der Religionsfreiheit lange Zeit sehr schwer getan, ehe auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine späte, dafür aber sehr klare Anerkennung stattfand. Auch nach dieser wichtigen Zäsur harrt der Anspruch der Religionsfreiheit an die Kirche freilich der Einlösung (vgl. Abschnitt 4).

2. Provokation für die Staaten


Auf UN-Ebene ist die Religionsfreiheit in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 verankert. Diese völkerrechtlich verbindliche Konvention konkretisiert das bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 – dort ebenfalls in Artikel 18 – postulierte Freiheitsrecht, das mit vollem Titel „Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ lautet.

Die Religionsfreiheit ist umfassend angelegt; sie schützt die Freiheit des inneren Glaubens und der äußeren Glaubensmanifestationen im Privaten wie im Öffentlichen, für Individuen wie für Gemeinschaften. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, einen Raum zu schaffen, in dem sich die Vielfalt der Überzeugungen und der davon getragenen Lebenspraxis angstfrei und diskriminierungsfrei entfalten kann.

Auch für einen freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland ist dies eine bleibende Herausforderung. In Sachen Religionsfreiheit gibt es immer viel zu tun. Einige der Fragen, die sich dabei stellen, werden hierzulande kontrovers diskutiert – man denke etwa an die manchmal durchaus ruppigen Debatten um das Kreuz in der Schule, Kopftücher in öffentlichen Institutionen, Feiertagsregelungen, schulischen Religionsunterricht oder die Personalpolitik in kirchlichen Krankenhäusern. Solche Themen können immer wieder polarisieren. Noch einmal ganz anders „provokant“ wirkt die Religionsfreiheit jedoch in autoritären Staaten. Dort kollidiert sie direkt und massiv mit staatlichen Herrschafts- und Hegemonialinteressen. Mal geht es um die staatliche Durchsetzung religiöser Gesetze oder dogmatischer Wahrheitsansprüche, so etwa in Iran oder Sudan; mal um die religiös-kulturelle Einfärbung nationalistischer Narrative, so etwa in Russland oder Indien; mal um die Aufrechterhaltung von Parteimonopolen gegen etwaige Opposition mittels eisenharter Kontrollpolitik, so etwa in China oder Vietnam. Bei aller Differenz der Motive, sind massive Verletzungen der Religionsfreiheit stets die Folge.

Dazu hier nur einige zufällig ausgewählte Bespiele: In der chinesischen Westprovinz Xinjiang nutzen die Behörden ihren Zugriff auf die Schulen gezielt dazu, Kindern die Erfahrung kollektiver religiöser Praxis – etwa das Fasten während des Ramadan – zu verbauen. Im Monat Ramadan erhalten sie Berichten zufolge besonders köstliche Schulspeisen, deren dankbarer Verzehr dann aber auch fest erwartet wird. Wer nicht mitzieht, erlebt Druck. Saudi-Arabien hat einen bekannten Religionskritiker zu tausend Peitschenhieben verurteilt; nach den ersten fünfzig Hieben brach er völlig zusammen und musste im Krankenhaus wiederhergestellt werden. In der islamischen Republik Iran werden Angehörige der postislamischen Bahai-Religion buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre verfolgt: Schon in den Kindergärten droht ihnen Indoktrination; von höherer Bildung sind sie ausgeschlossen; ihre Friedhöfe wurden teilweise mit Bulldozern verwüstet. Auch christlichen Minderheiten, vor allem evangelikalen Missionskirchen, droht systematische Repression. Unter dem fadenscheinigen Vorwand der Terrorismusbekämpfung hat der russische Oberste Gerichtshof jedwede Religionspraxis der Zeugen Jehovas verboten; ihre Religionsgemeinschaft mitsamt ihrer Infrastruktur gilt als „liquidiert“, und jede künftige Gemeindetätigkeit kann mit Haftstrafen geahndet werden. Gewaltsame Zusammenstöße in Indien zwischen Hindunationalisten und religiösen Minderheiten finden in einem Klima faktischer Straflosigkeit statt; Gewalttäter dürfen sich politisch zu ihren Übergriffen ermutigt fühlen. Die rigide Flüchtlingsabwehr in Ungarns „illiberaler Demokratie“ (so Viktor Orbán) hat ebenfalls verheerende Folgen für die Religionsfreiheit, geht sie doch mit der Mobilisierung islamophober und antisemitischer Klischees einher. Das christliche Abendland, das Orbán und andere zu verteidigen vorgeben, definiert sich dabei vor allem durch Stacheldraht und nicht durch Inhalte. Die territorialen Abschnürungen unter Verweis auf religiös-kulturelle Identitäten, die derzeit in Europa vielerorts zu verzeichnen sind, wirken manchmal wie eine bizarre Neuauflage der Politik des „cuius regio, eius religio“.

Krasse Erfahrungen mit staatlicher Repression habe ich auf einer UN-Mission in Vietnam gemacht. Wenn immer ich über Verletzungen der Religionsfreiheit in Vietnam spreche, erlebe ich als Reaktion ziemliche Verblüffung. Im mittlerweile als Touristenparadies erschlossenen Vietnam sehen die Besucher alte und neue Tempel, Pagoden und Kirchen, in denen Gläubige ihre Rituale verrichten. Der Schluss scheint nahezuliegen, dass es in Sachen Religionsfreiheit keine allzu großen Probleme mehr gebe. Dies ist allerdings ein gravierender Irrtum. Tatsächlich haben sich die Muster der staatlichen Repression lediglich verschoben. Primäres Ziel restriktiver staatlicher Maßnahmen ist – anders als vor vierzig Jahren – nicht mehr die Sicherung ideologischer Wahrheit oder Reinheit, sondern die Aufrechterhaltung des Politikmonopols der Einheitspartei. Mit anderen Worten: Es geht heute weniger um doktrinäre als um kontrollpolitische Anliegen. Gemeindeaktivitäten außerhalb staatlicher Kontrolle stellen per se bereits das Monopol der Partei auf Führung des gesellschaftlichen Lebens in Frage. Daraus resultieren die unersättlichen Kontrollbedürfnisse einer autoritären Regierung. Oft bleibt es nicht bei der Kontrolle, sondern die Regierung greift darüber hinaus zu Maßnahmen weitreichender Infiltration. Während manche Religionsgemeinschaften sich darauf – nolens volens – einlassen und mit dem Staat kooperieren, ziehen sich andere in den Untergrund zurück. Die entscheidende Spaltungslinie verläuft deshalb zwischen „loyalen“ und „subversiven“ Gruppen innerhalb ein und derselben Glaubensgemeinschaft. Die Beziehungen sind als Folge staatlicher Infiltration und Zersetzung heillos vergiftet. In Gesprächen mit dem offiziellen buddhistischen Sangha, in dessen Pagoden Bilder von Ho Chi Minh hängen, wusste man angeblich überhaupt nichts davon, dass es im Land auch unabhängige buddhistische Gemeinden gibt. Wenn man mit inoffiziellen Gruppen im Untergrund spricht, was sehr viel Vorsicht verlangt, um die Gesprächspartner nicht zu gefährden, erfährt man eine völlig andere Sicht der Dinge. In ihrer Einschätzung ist der offizielle Buddhismus kaum mehr als eine kommunistische Tarnorganisation. Ähnliche Spaltungslinien verlaufen zwischen Cao-Dai-Gruppierungen (einer Religionsgemeinschaft, die es nur in Vietnam gibt) oder zwischen protestantischen Gemeinden, die in den letzten zwei Jahrzehnten viel Zulauf erfahren haben. Während unseres Aufenthalts in Vietnam erlebten wir selbst zunehmende Überwachungen – bis hin zu Durchsuchungen unserer Hotelzimmer und ständiger „Begleitung“ durch immer wieder dieselben Motorradfahrer. Da wir uns auf den von der Regierung vorgeschlagenen Besuchsplan nicht eingelassen hatten, gingen die Behörden schließlich dazu über, unsere Gesprächspartner unter zeitweiligen Hausarrest zu stellen und sie zugleich immer massiver zu bedrohen. Um ihre weitere Gefährdung, die gewaltsam zu eskalieren drohte, zu vermeiden, musste ich die Mission schließlich abbrechen. Mein Bericht im UN-Menschenrechtsrat fiel dementsprechend harsch aus.

Wie „gefährlich“ die Religionsfreiheit für autoritäre Regime ist, erlebte ich auch in Kasachstan. In der Verfassung verspricht die Regierung zwar Religionsfreiheit. Tatsächlich aber werden die Menschen über administrative Auflagen in die Rolle permanenter Antragsteller und Bittsteller gedrängt. Für jedwede religiöse Aktivität müssen sie sich eine Sonderlizenz besorgen: eine Lizenz für den Import religiöser Bücher, eine Lizenz für den Verkauf religiöser Literatur, eine Lizenz für Missionstätigkeit, eine Lizenz für Jugendarbeit usw. Diese Lizenzen sind außerdem zeitlich und räumlich oft begrenzt, gelten also ggf. nur für eine bestimmte Provinz und sind, wenn man sie denn erworben hat, womöglich fast schon wieder erloschen. Die Antragstellung ist mit ziemlichem bürokratischem Aufwand verbunden. Im Ergebnis wissen die Menschen nicht, ob ihre religiöse Praxis erlaubt, verboten oder nur „geduldet“ ist. Hinzu kommt die notorische Korruption der Behörden. Es herrscht folglich eine Atmosphäre systematischer Einschüchterung, weil es rechtliche Klarheit gar nicht gibt – und nicht geben soll. Die kasachische Regierung sieht sich dabei durchaus in Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards und verweist gern auf die Möglichkeit, die Religionsfreiheit zugunsten öffentlicher Ordnung konkret zu beschränken.

Dies bringt mich zu einem wichtigen systematischen Punkt, nämlich den Schrankenklauseln, die mit vielen Menschenrechtsgarantien einhergehen, auch mit der Religionsfreiheit (jedenfalls in ihrem „forum externum“). Die Pointe dieser Klauseln wird oft übersehen oder jedenfalls systematisch nicht ernst genug genommen. Sie besteht nämlich darin, die etwaige Möglichkeit staatlicher Schrankenziehung an strikte und kontrollierbare Bedingungen zu knüpfen. Es geht, mit anderen Worten, nicht um eine generelle „Erlaubnis“ staatlicher Beschränkungen, sondern um deren kritische Einhegung. In der deutschen Rechtslehre hat man dafür das merkwürdig klingende, aber treffende Kompositum der „Schranken-Schranken“ geprägt. Mit anderen Worten: Wenn der Staat meint, der Religionsfreiheit in einigen Punkten konkrete Schranken auferlegen zu müssen, hat er dafür präzise empirische und normative Gründe vorzubringen. Nur wenn alle dafür vorgesehenen Kriterien erfüllt sind, kann eine Beschränkung als legitim gelten. Die Argumentationslast liegt auf Seiten derer, die die jeweilige Beschränkung für unumgänglich halten. So sollte es jedenfalls sein. Lassen Sie mich betonen, dass kaum ein Thema für die Praxis der Menschenrechte so wichtig ist wie der angemessen präzise Umgang mit den sog. Schrankenklauseln. Umso bedauerlicher ist es, dass der Umgang mit diesen Kriterien in der Praxis oft sehr lax ausfällt. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Jurisprudenz zur Religionsfreiheit den Staaten weites Ermessen eingeräumt und damit menschenrechtliche Substanz preisgegeben.

In den Gremien der UNO gab es in den letzten Jahren darüber hinaus unterschiedliche Anläufe, der Religionsfreiheit ihre freiheitsrechtliche Spitze systematisch abzubrechen und sie zu einem Schutzrecht kollektiver religiöser Identität – auf Kosten ihres freiheitsrechtlichen Kerns – zu depotenzieren. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass man sie auf einen Bestandteil der Rassismusbekämpfung reduziert. Der Zusammenhang zur Rassismusthematik ist dabei angesichts phänomenaler Überlappungen zunächst durchaus nachvollziehbar. Antisemitismus und Islamophobie haben mit Religion zu tun, werden aber gleichzeitig – und womöglich primär – auch mit Rassismus assoziiert. So weit so gut. Problematisch wird es jedoch spätestens dann, wenn der Religionsbegriff unter der Hand zu einer quasi-ethnischen Kategorie, also zu einem mehr oder weniger unveränderlichen „kollektiven Identitätsmarker“, mutiert. Von der Religion bliebe dann lediglich die Komponente kollektiver Herkunft und Zugehörigkeit übrig, während die Komponente existenzieller Überzeugung aus dem Blick zu geraten droht. Damit wären zugleich die Dimensionen des persönlichen Suchens, Findens, Fragens, Zweifelns, Werbens, Debattierens marginalisiert – also all jene Dimensionen des Religiösen, die sich nur in Freiheit entfalten können und deshalb einen vornehmlichen Gegenstand der Religionsfreiheit bilden. An die Stelle der Theologie träten ethnographische Studien.

Eine entscheidende Testfrage der Religionsfreiheit, an der sich ihr freiheitsrechtlicher Kern bewährt, ist das Recht auf Glaubenswechsel. Wie umstritten es faktisch ist, konnte ich in der UN-Generalversammlung erleben, als ich dort meinen Bericht zur Freiheit der Konversion als unveräußerlichem Bestandteil der Religionsfreiheit vortrug. Ich stieß auf eine breite Front eisigen Schweigens. Dabei ist der Glaubenswechsel als Bestandteil der Religionsfreiheit auf dem Papier klar normiert. Politische Projekte, um die Religionsfreiheit in ein Schutzrecht vorgegebener kollektiver Identitäten zu transformieren, führen dazu, diesen freiheitsrechtlichen Kern der Religionsfreiheit zu vernebeln oder gar zu zerstören. Hier ist Wachsamkeit gefordert.

Eine antiliberale Verbiegung der Religionsfreiheit droht auch dort, wo man sie zu einer Gegeninstanz gegen satirische Religionskritik aufbaut. Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg gingen entsprechende Initiativen vornehmlich von der Organisation der Islamischen Kooperation, einem Netzwerk islamisch geprägter Staaten, aus. „Combating Defamation of Religions“ steht im Titel der einschlägigen Resolutionen, die jeweils scharfe Kontroversen auslösten. Die Texte vermitteln den Eindruck, es gehe ihnen um die Ehre der Religion, vor allem die Reputation des Islams, nicht die Freiheit der Menschen. Meine Vorgängerin im Mandat der Sonderberichterstattung zur Religionsfreiheit, Asma Jahangir (im Amt von 2004 bis 2010), gab anlässlich dieser Debatten regelmäßig zu Protokoll, dass die Resolutionen zur Bekämpfung der Religionsdiffamierung mit dem Menschenrecht der Religionsfreiheit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Dass Asma Jahangir aus Pakistan stammte, einem Land mit besonders drakonischer Blasphemie-Gesetzgebung, gab ihren Interventionen eine zusätzliche biographische Pointe. Als ich 2010 selbst die Funktion bei der UNO übernahm, war der Höhepunkt der Kontroverse um „Combating Defamation of Religions“ bereits vorüber. Ganz verschwunden ist die Debatte freilich nicht, zumal in den letzten Jahren Russland zunehmend die Wortführerschaft für eine ins Antiliberale verdrehte Religionsfreiheit (die dann aber eben kein Freiheitsrecht und kein Menschenrecht mehr wäre!) übernommen hat. Es ist wichtig, diesem gefährlichen Etikettenschwindel, klar und entschieden zu widersprechen.

3. Provokation für die liberale Gesellschaft

Zu den größten Überraschungen meiner Tätigkeit für die Religionsfreiheit gehört die Erfahrung, dass Menschen aus liberalen Milieus, in denen man für die menschenrechtliche Freiheit generell viel Sympathie empfindet, gegenüber der Religionsfreiheit oft ambivalent, teils sogar offen ablehnend reagieren. Die Religionsfreiheit dürfte das einzige „klassisch-liberale“ Menschenrecht sein, das in liberalen Kreisen nicht auf allgemeine Zustimmung zählen kann. Dies ist ein verstörender Befund.

Die nicht selten ambivalenten Haltungen lassen sich zum Teil als eine Reaktion auf ideologische Verdrehungen erklären, wie ich sie soeben kurz skizziert habe. Es ist freilich außerordentlich bedauerlich, wenn manche Liberale den antiliberalen „Umtopfungen“ der Religionsfreiheit zu einem Schutzrecht hegemonialer kollektiver Identitäten auf dem Leim gehen, statt sie zu kritisieren und das Freiheitsrecht gegen ihre staatlichen Verächter und Verdreher zu verteidigen. Denn auf diese Weise wirken sie faktisch an der De-Legitimierung der Religionsfreiheit mit.

Eine Quelle mancher Missverständnisse ist die Tatsache, dass die Religionsfreiheit nicht selten von religiös konservativen Menschen in Anspruch genommen wird, die sich damit gegen emanzipatorische Errungenschaften, insbesondere im Bereich von Gender, wenden. Einige dieser Fälle haben weltweit Schlagzeilen gemacht, so die Weigerung eines Bäckers in den USA, einen Hochzeitskuchen für ein schwules Paar zu produzieren, oder die Weigerung einer englischen „Standesbeamtin“ (so würde man ihr Amt in Deutschland bezeichnen), an der offiziellen Stiftung gleichgeschlechtlicher Ehen mitzuwirken. Wiederholt fanden solche Weigerungen unter Berufung auf die Gewissens- und Religionsfreiheit statt. Nun sind solche Konstellationen im Menschenrechtskontext nicht ungewöhnlich. Auch die Meinungsfreiheit kann bekanntlich für antiliberale Ziele in Anspruch genommen werden, und dasselbe gilt für die Versammlungsfreiheit, auf die sich nicht zuletzt Bewegungen wie die PEGIDA berufen. Es gehört zum Wesen von Freiheitsrechten, das sie für ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Ziele in Anspruch genommen werden können. Kaum jemand käme auf die Idee, der Meinungsfreiheit oder der Versammlungsfreiheit ihren Charakter als Freiheitsrechte allein deshalb abzusprechen, weil sie manchmal auch für anti-liberale Anliegen eingesetzt werden. Freiheitsrechte sind nicht nur für die Freunde der Freiheit reserviert. Mit dieser Spannung muss eine liberale Gesellschaft umgehen können, und im Allgemeinen funktioniert dies auch recht gut. Bei der Religionsfreiheit scheint dies hingegen etwas anders zu sein. Die Tatsache, dass auch sie gelegentlich für ultra-konservative Überzeugungen oder Interessen in Anspruch genommen wird, bestätigt manche Beobachter in ihrem womöglich schon länger gehegten Verdacht, dass die Religionsfreiheit als solche nicht wirklich in eine progressive Menschenrechtsagenda hineingehört. Die alte Gretchenfrage „Wie hältst du es mit der Religion?“ beunruhigt auch die moderne liberale Gesellschaft und wirft anscheinend manchen Schatten auf das Menschenrecht der Religionsfreiheit.

Dazu eine persönliche Reminiszenz. Als vor einigen Jahren das Thema Knabenbeschneidung Wellen schlug, wurde ich wiederholt von den Medien zu meiner Positionierung befragt. Die Interviews begannen mehrmals mit etwa folgender Frage: Was soll Vorrang haben – die Religionsfreiheit oder die Menschenrechte? Eine verrückte Alternative! Der in der Frage unterstellte Gegensatz war allem Anschein nach ernst gemeint; es handelte sich nicht um einen Scherz. Ich möchte den Interviewern nicht unterstellen, sie wüssten nicht, dass die Religionsfreiheit als Menschenrecht international anerkannt ist. Das Problem ist nicht fehlendes Wissen, sondern fehlendes Verständnis. Dass die Religionsfreiheit einen integralen Bestandteil eines emanzipatorischen Menschenrechtsansatzes bildet, leuchtet vielen Menschen, die sich oft im weitesten Wortsinne als Liberale verstehen, womöglich nicht mehr ein. Das wird zunehmend zum Problem – vor allem in der englischsprachigen Diskussion.

Im Englischen liegt schon sprachlich die Assoziation von „human rights“ mit „humanism“ besonders nahe. Dazu muss man wissen, dass der englische Begriff „humanism“ weit mehr als im Deutschen religionskritisch, ja postreligiös belegt ist. Im deutschen Kontext mag man beim Begriff „Humanismus“ unter anderem an christliche Intellektuelle wie Erasmus von Rotterdam oder Thomas Morus denken; im Englischen denkt man eher an den bekannten Religionskritiker und Evolutionsbiologen Richard Dawkins. In manchen Debattenkontexten kann man erleben, dass „human rights“ und „religious freedom“ systematisch in einen Gegensatz gestellt werden: Während die „human rights“ auf Prinzipien von Universalismus, Freiheit und Gleichheit aufbauen, steht die Religionsfreiheit scheinbar für das Gegenteil: für Klientelismus, Unfreiheit, Frauendiskriminierung und Hierarchien. So jedenfalls eine weit verbreitete Wahrnehmung – genauer: Fehlwahrnehmung. Übersehen wird in solcher Entgegensetzung nämlich, dass die Religionsfreiheit, die im Übrigen auch die Weltanschauungsfreiheit umfasst, gerade darauf abzielt, Zwangsverhältnisse und Hegemonialstrukturen im Kontext von Religion aufzubrechen. Sie dient dazu, Freiräume zu öffnen, in denen sich nicht nur religiöse Vielfalt, sondern auch inter-religiöse und intra-​religiöse Diskurskulturen und nicht zuletzt auch Religionskritik angstfrei entfalten können.

Wenn Menschenrechte im Allgemeinen und Religionsfreiheit im Besonderen immer weiter auseinanderklaffen sollten, wäre das von großem Schaden für alle Seiten. Die Idee der „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte – also die Einsicht, dass die verschiedenen Rechte einander ergänzen und wechselseitig voraussetzen – könnte mehr und mehr aus dem Blick geraten. An die Stelle eines ganzheitlichen Menschenrechtsverständnisses träte womöglich ein „pick-and-choose“-Denken, das den Staaten und anderen Akteuren die Möglichkeit überlassen würde, sich aus dem Gesamt der Menschenrechte das herauszuziehen, was ihnen machtpolitisch und ideologisch gerade zupass kommt, und das zu ignorieren, was ihren Interessen im Wege steht. Die Durchschlagskraft der Menschenrechte insgesamt wäre erheblich geschwächt. Außerdem will ich mir persönlich einen Menschenrechtsansatz nicht vorstellen, der für Fragen existenzieller Grundüberzeugungen und davon getragener Lebenspraxis nicht sensibel wäre. Ohne Ernstnehmen der Religionsfreiheit würde menschenrechtliches Engagement nicht nur an Überzeugungskraft verlieren, sondern letztlich aufhören, vollends „menschlich“ zu sein.

Eine der schärfsten derzeitigen Kritikerinnen der Religionsfreiheit, die US-amerikanische Religionswissenschaftlerin Winnifred Fallers Sullivan, stellte den positiven Beitrag der Religionsfreiheit für eine freiheitliche Gesellschaft mit folgenden Worten in Abrede: „To be religious is not to be free, but to be faithful.“ Hier wird ein Gegensatz aufgebaut, der nicht nur religiösen Überzeugungen ihren legitimen Platz in der liberalen Gesellschaft streitig macht, sondern zugleich ein erschütternd flaches Verständnis von Freiheit zeigt. Als sei Freiheit per se das Gegenteil von „faith“: von Glaube, von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit! Zur Erfahrung menschlicher Freiheit gehört, dass Menschen sich von ihren Überzeugungen „bestimmen lassen“, was – sofern kein Zwang mit im Spiel ist – nicht nur mit der Freiheit kompatibel ist, sondern das intensivste Freiheitserlebnis sein kann. Jede echte Überzeugung ist durch ein eigentümliches Moment des „Unbeliebigen“ charakterisiert; sie hat stets einen Aspekt von „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Dies gilt nicht nur für den Bereich des Religiösen. Ähnliche Erfahrungen kann man auch in anderen Lebensbereichen machen, etwa in Fragen von Partnerschaft, Freundschaft oder Familie; auch die Treue zu nahestehenden Menschen hat ein solches Element von „Unbeliebigkeit“. Auch moralische Prinzipien entwickelt man nicht, indem man die Optionen an den Knöpfen abzählt oder schlicht den Zufall entscheiden lässt.

Freie Selbstbestimmung heißt nicht Bestimmungslosigkeit, sondern Zwangsfreiheit im Finden der je eigenen Bestimmung. Die Rechtsordnung kann dazu nur indirekt beitragen, in dem sie die äußeren Bedingungen dafür, nämlich die Freiheit von Zwang gewährleistet. Das Suchen, geschweige denn das Finden der eigenen Bestimmung kann das Recht dem Menschen jedoch nicht abnehmen. Wenn Menschen sich von religiösen oder anderen Überzeugungen „bestimmen lassen“, ist dies jedenfalls weder pathologisch noch Hinweis auf Unfreiheit, sondern womöglich eine gelungene Manifestation freier Selbstbestimmung – genauer: Zwangsfreiheit im Finden der eigenen Bestimmung. Wer Religion allein deswegen in die Sphäre der Unfreiheit verweist, weil sie existenzielle Prägekraft für menschliches Leben entwickeln kann, zeigt ein erschreckend eindimensionales und buchstäblich anspruchsloses Verständnis von Freiheit, das im Übrigen gerade denen in die Hand spielt, die die Freiheit als Seichtigkeit verunglimpfen und durch zwangsbewehrte Autoritäten ersetzt sehen möchten. Dem Satz „To be religious is not to be free, but to be faithful“ hätte auch der Großinquisitor zustimmen können.

4. Provokation für die Religionsgemeinschaften

Man könnte vermuten, dass die Religionsgemeinschaften die natürlichen Verteidiger und Förderer der Religionsfreiheit sein müssten, geht es bei diesem Menschenrecht doch um ihre ureigenen Anliegen. In der Tat gibt es viele eindrucksvolle Beispiele für solches Engagement. Unter den NGOs, die sich für die Religionsfreiheit einsetzen, befinden sich neben säkularen auch etliche „faith-based organizations“ aus unterschiedlichen religiösen Traditionen. Ich habe persönlich erlebt, wie Katholiken, Protestanten und Buddhisten in Vietnam gemeinsam politisch für die Religionsfreiheit eintreten und im Kampf gegen politische Repression erhebliche Risiken bis zur langjährigen Inhaftierung in Kauf nehmen. Im „Interreligious Council“ von Sierra Leone stehen Muslime und Christen zusammen, um gemeinsam gegen alle Formen religiöser Gewalt vorzugehen und für die Religionsfreiheit in der Gesellschaft einzutreten. Die Vertreterin der Bahais bei der UNO in Genf hat sich einmal öffentlich zum Problem wachsender Schiitenverfolgung geäußert – und das, obwohl die Bahais selbst im schiitischen „Gottesstaat“ Iran systematisch diskriminiert und drangsaliert werden! Man könnte die Liste solcher Beispiele leicht erweitern, in denen sich die Chancen und Möglichkeiten der Religionsgemeinschaften zur Verteidigung der Religionsfreiheit illustrieren lassen. Das Thema Religionsfreiheit hat darüber hinaus Eingang in viele Curricula des Religionsunterrichts und in theologische Seminare gefunden. Für manche Religionsgemeinschaften – nicht zuletzt für einige der kleineren Gemeinschaften – hat der Einsatz zugunsten der Religionsfreiheit geradezu „status confessionis“ gewonnen.

Man muss allerdings auch die Gegenrechnung aufmachen. Nach wie vor stehen wichtige Repräsentanten von Religionsgemeinschaften einem menschenrechtlichen Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt eher skeptisch gegenüber. Zwar ist eine offene Ablehnung selten geworden. Die verschwiemelte Ja-Aber-Semantik, die man bei vielen Staaten erlebt, begegnet einem jedoch nicht selten auch bei den Religionsgemeinschaften. Im Ergebnis kann dies dazu führen, die Religionsfreiheit mit traditionellen Konzepten begrenzter Toleranz zu vermischen und dadurch ihren modernen freiheitsrechtlichen Charakter zu vernebeln. Gelegentlich möchte man die Religionsfreiheit auch für bestimmte Religionsgruppen reservieren und beispielsweise neureligiöse „Störenfriede“ oder „landesfremde Invasoren“ außen vor halten. Oft fehlt es auch an der Bereitschaft, sich für Vielfalt im Inneren der eigenen Gemeinschaft zu öffnen und etwa feministische Re-Interpretationen religiöser Quellen und Traditionen als Chance zu begreifen. Die oben beschriebene Gefahr, dass die Religionsfreiheit zu einem Schutzrecht vorgegebener kollektiver Identitäten oder gar zum Vorwand antiliberaler Blasphemiegesetze verdreht wird, besteht auch in den Positionierungen mancher Religionsgemeinschaften und ihrer Vertreter.

Im vorigen Abschnitt habe ich kurz dargetan, dass einige Liberale (natürlich keineswegs alle!), sich mit der Religionsfreiheit schwertun, weil es ihnen womöglich an Verständnis für die Bedeutung von Religion in der Öffentlichkeit einer modernen freiheitlichen Gesellschaft mangelt. Ihrem Unbehagen gegenüber der Religion korrespondiert auf der Seite religiöser Traditionalisten eine nach wie vor bestehende Skepsis gegenüber der Freiheit und ihren Konsequenzen. Während die einen sich an der Religion reiben, bleiben die anderen gegenüber der Freiheit reserviert. Es gibt Anzeichen dafür, dass die beiden Abwehrmotive einander wechselseitig in die Hände spielen und die Akzeptanz der Religionsfreiheit blockieren können. Der am Ende des letzten Abschnitts zitierte Satz von Sullivan mag dafür als Beispiel genügen.

In der Tat verlangt die Religionsfreiheit den Religionsgemeinschaften Einiges ab. Sie mutet ihnen die Einsicht zu, dass das Zusammenleben in unseren irreversibel pluralistischen Gesellschaften nur gelingen kann, wenn der Staat allen Menschen als den Trägern religiöser und weltanschaulicher Grundüberzeugungen ihre Freiheitsrechte garantiert. Bestimmte religiöse Wahrheitsansprüche, Traditionen, Identitäten, Praktiken, Gesetze und Institutionen unter staatliche Kuratel zu stellen und gegen Kritik, Infragestellung und Konkurrenz zu immunisieren, würde nur in die Irre führen; die Folgen wären Diskriminierungen, Ausgrenzungen, gesellschaftliche Spaltungen und alle damit einhergehenden Verwerfungen. Subjekte von Rechtsansprüchen im Feld von Religion und Weltanschauungen können deshalb nur die Menschen in ihrer gleichberechtigten Freiheit sein. Menschenrechtlich geschützt ist nicht die Wahrheit der Religion, sondern die freie Wahrheitssuche der Menschen, nicht die Heiligkeit eines göttlichen Gesetzes, sondern die persönliche und gemeinschaftliche Freiheit religiöser Lebensführung, nicht der Vorrang der einen wahren Kirche, sondern die Möglichkeit zur öffentlichen Manifestation vielfältiger Überzeugungen usw. Dies ist in vielen Religionsgemeinschaften noch nicht mit aller Konsequenz angekommen, geschweige denn vollumfänglich akzeptiert. Die Religionsfreiheit ist eben nicht nur die Freiheit für die je eigene Überzeugung und Praxis, sondern auch die Freiheit der anderen, und zwar – darin besteht die eigentliche Provokation – nach Kriterien allgemeiner Gleichberechtigung.

Die Vorbehalte, die innerhalb vieler Religionsgemeinschaften hinsichtlich der Religionsfreiheit bestehen, fallen je nach theologischem und historischem Kontext durchaus unterschiedlich aus. Im islamischen Raum geraten Menschenrechte und Scharia-Traditionen immer wieder in Konflikt miteinander – vor allem dort, wo die Scharia von Staats wegen durchgesetzt wird. In der Frage des „Abfalls“ vom Islam, den einige (nicht die Mehrheit) der islamisch geprägten Staaten mit scharfen strafrechtlichen Sanktionen bedrohen, besteht nach wie vor erheblicher Klärungs- und Reformbedarf. Liberale muslimische Intellektuelle wie Mohamed Talbi aus Tunis, den Johannes Schwartländer bereits in den 1980er Jahren in seine Tübinger Kolloquien eingeladen hatte, haben allerdings eindrucksvoll gezeigt, dass eine menschenrechtlich verstandene Religionsfreiheit auch islamisch als sinnvolle Option ergriffen werden kann. Obwohl im christlichen Kontext strafrechtlich bewehrte Apostasie-Verbote heutzutage nicht mehr existieren, können Anti-Blasphemiegesetze durchaus eine ähnlich abschreckende Funktion für Konvertiten und Missionare entfalten. Einigermaßen drakonische Beispiele dafür finden sich beispielsweise im Einflussbereich der russischen Orthodoxie. Als systematisches Hindernis auf dem Weg zur Akzeptanz der Religionsfreiheit erweist sich vor allem die Verbindung oder gar Verschmelzung religiöser mit nationaler Identität, die unter den Vorzeichen ganz verschiedener Religionen geschehen kann – auch im Namen von Buddhismus oder Hinduismus, so etwa in Myanmar, Sri Lanka oder Nepal. Repressive staatliche Maßnahmen gegen Minderheiten, Sekten, Kritiker oder Dissidentinnen finden denn leider oft den Applaus hegemonialer Religionsgemeinschaften, die mancherorts sogar den Takt zu Verfolgungsmaßnahmen vorgeben.

Aus traditionalistischen Kreisen in unterschiedlichen Religionsgemeinschaften schlägt den Menschenrechten gelegentlich der Verdacht entgegen, sie zielten auf die globale Durchsetzung einer postreligiösen Humanitätsideologie. Wie oben skizziert, kann ein solcher Verdacht auch durch kurzschlüssige Assoziationen von „human rights“ mit „humanism“ Nahrung gewinnen. Deshalb sind hier Klarstellungen erforderlich, bei denen der Religionsfreiheit eine wichtige Funktion zukommt. Im Gesamt der Menschenrechte dient sie – neben ihrer praktischen Schutzfunktion – auch dazu, etwaige „doktrinäre“ Überziehungen zurückzuweisen. Recht verstanden, formulieren die Menschenrechte weder eine „anthropozentrische“ Weltanschauung, noch leisten sie ein Heilsversprechen, mit dem sie das Erbe der Religionen antreten wollten. Ihre Aufgabe konzentriert sich vielmehr darauf, mit Mitteln von Politik und Recht friedliche Koexistenz in der irreversibel pluralistischen Welt zu gewährleisten, und zwar auf der Basis gleicher Freiheit für alle Menschen. Tragender Grund der Menschenrechte ist die Idee der Menschenwürde, die in menschenrechtlichen Dokumenten in „säkularer“ Sprache umrissen wird, so dass sie für unterschiedliche religiöse Vertiefungen ausdrücklich offen bleibt. Genau diese Offenheit wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass die Menschenrechte das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit enthalten.

Wer sich in der Situation einer verletzlichen Minderheit befindet, tut sich oft leichter damit, den Wert der Religionsfreiheit zu erkennen. Auf dem langen und konflikthaften Weg, den die Katholische Kirche zurücklegte, ehe sie die Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil schließlich rückhaltlos anerkannte, spielten Minderheiten nicht zufällig eine zentrale Rolle. Bereits in den 1830er Jahren stellte Alexis de Tocqueville erstaunt fest, dass katholische Priester in Amerika, wo der Katholizismus als Minderheit existierte, den Sinn der Religionsfreiheit und der Trennung von Staat und Religion zu schätzen wussten – womit sie eine Position bezogen, die im postnapoleonisch restaurierten katholischen Frankreich kaum vorstellbar war. Während die Religionsfreiheit für Minderheiten buchstäblich eine Überlebensfrage sein mag, kann sie für Religionen in komfortabler Mehrheitslage immerhin zu einer Testfrage ihrer Glaubwürdigkeit werden.

Die Entflechtung von Religion und Staat, der Abbau von Hegemonialstrukturen und Privilegien sowie die Eröffnung eines freien Entfaltungsraums für alle, erweist sich nicht nur für Minderheiten, sondern langfristig auch für Religionen in einer Mehrheitssituation als förderlich. Dies gehört zu den grundlegenden Einsichten und Erfahrungen, die schließlich die Verabschiedung der Konzilserklärung „Dignitatis humanae“ ermöglicht haben. Wenigstens deren Eingangssatz sollte hier zum Abschluss noch einmal zitiert werden, weil er den Ausgangspunkt kirchlicher Neubesinnung so klar auf den Begriff bringt: „Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewusstsein, und es wächst die Zahl derer, die den Anspruch erheben, dass die Menschen bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang, sondern vom Bewusstsein der Freiheit geleitet.“

Glaube braucht Freiheit, und die Freiheit braucht das Engagement auch der Glaubenden. Das Menschenrecht der Religionsfreiheit kann auf spezifische Weise, nämlich durch die Gewährleistung angemessener politisch-rechtlicher Rahmenbedingungen, mit dazu beitragen, dass weltoffener Glauben möglich wird. Im Gegenzug kann die Diskussion über den Sinn der Religionsfreiheit – gerade auch in Auseinandersetzung mit neueren fundamentalen Anfragen – das Anspruchsniveau des modernen Freiheitsstrebens, das mehr sein will als bloßer liberaler „life style“, erneut in Erinnerung bringen. Damit leistet sie – gerade auch in ihrem provokativen Gehalt – einen Dienst an Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften. In dieser Brückenfunktion der Religionsfreiheit sehe ich außerdem einmal mehr eine Affinität zum Denken Alfons Auers, dem es in seinem Wirken um die fruchtbare Begegnung zwischen christlichem Glauben und modernem Freiheitsethos ging. Ich möchte mich abschließend vor ihm verneigen und Ihnen allen noch einmal herzlich danken.

Literaturhinweise

Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford, 2016.
Marianne Heimbach-Steins, Religionsfreiheit. Ein Menschenrecht unter Druck, Paderborn, 2012.
Tore Lindholm/W. Cole Durham/ Bahia Tahzib-Lie (Hg.), Facilitating Freedom of Religion or Belief. A Deskbook, Leiden, 2004.
Martha C. Nussbaum, The New Religious Intolerance. Overcoming the Politics of Fear in an Anxious Age, Harvard, 2012.
Johannes Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz, 1993.

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