archivierte Ausgabe 3/2016 |
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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/thq.2016.3.195-212 |
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Reinhold Boschki |
Zeiten der Ambivalenz |
Religiöse Bildung zwischen Unterbrechung und Erneuerung |
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Zusammenfassung Der Beitrag stellt die bildungstheoretische Rückfrage an ein zentrales Thema der Gegenwartsanalyse, das mit dem Stichwort ‚Ambivalenz‘ gekennzeichnet ist. Wie kann religiöse Bildung in Zeiten der ‚flüchtigen Moderne‘ (Zygmunt Bauman) neu gedacht und konzeptualisiert werden? Die gegenwärtige Unterbrechung religiöser Bildung wird an vier Feldern dargestellt, die in ihrer Ambivalenz verstanden werden: die Moderne, die Identität der Menschen in der Spätmoderne, die Religionen und die Institution Kirche. Ausgehend von dem Scheitern der Moderne angesichts von Auschwitz wird der Versuch unternommen, Potentiale für die Erneuerung und ‚Re-kontextualisierung‘ (Lieven Boeve) religiöser Bildung zu finden. In allen Feldern werden konkrete Beispiele aus der Bildungspraxis aufgezeigt, die die ‚Ambivalenzkompetenz‘ der Lernenden anregen und fördern.
Abstract With respect to a central topic that is treated in the analysis of the present age and is characterized by the keyword ‘ambivalence’, the contribution poses the educationaltheoretical question: How can one re-think and conceptualize religious education in times of ‘liquid modernity’ (Zygmunt Bauman)? The current interruption of religious education is depicted with reference to four fields which are understood in their respective ambivalence: modernity, the identity of human beings in the late modern age, the religions, and the institution church. Taking the failure of modernity in the face of Auschwitz as its starting point, the article attempts to find potentialities for the renewal and ‘re-contextualization’ (Lieven Boeve) of religious education. In all fields concrete examples from educational practice are presented which stimulate and promote the ‘competence for ambivalence’ of the learners.
Schlüsselwörter – Keywords Ambivalenz; Unterbrechung; Bildung; flüchtige Moderne; Religionspädagogik ambivalence; interruption; theory of education; liquid modernity; religious education
Hinführung und Fragestellung
‚Theologie ist nicht dazu da, die Menschen zu beruhigen, sondern sie zu beunruhigen‘ – dieser Ausgangssatz, der gleichzeitig als roter Faden des folgenden Beitrags gelten will, entspricht einem leicht veränderten Zitat des Auschwitzüberlebenden Elie Wiesel, das ursprünglich auf die Literatur und den Schriftsteller gemünzt war. Theologie will Glauben in Geschichte und Gegenwart, will Welt und Wirklichkeit, sowie religiöse Existenz und Praxis reflektieren, dabei jedoch nicht einfach bestehende Denk- und Handlungsmuster bestätigen, sondern hinterfragen, sie will aufrütteln, zum Nachdenken bringen, Illusionen dekonstruieren. Dies ist somit auch ein übergeordnetes Ziel der theologischen Teildisziplin der Religionspädagogik, deren Aufgabe die Reflexion religiöser Bildung und ihrer Kontexte ist. Im Folgenden werden einige grundsätzliche Überlegungen zu religiöser Bildung angestellt und daraus theoretische, wie praktische Konsequenzen gezogen, indem ein zentrales Stichwort zur Analyse und zum Verständnis unserer Zeit in den Mittelpunkt gestellt wird: Ambivalenz. Es geht um die Ambivalenz gesellschaftlicher Prozesse, Ambivalenz der Religion und Religionen, der Theologie selbst, der Bildung und somit auch der religiösen Bildung. Die Ausgangsthese lautet: Nichts charakterisiert die momentane gesellschaftliche, geschichtliche, kulturelle – auch die kirchliche und religiöse – Situation mehr, als das sozial- und gegenwartsanalytische Stichwort der Ambivalenz.
Dabei ist Ambivalenz kein Faszinationsbegriff, sondern ein Analysebegriff. Er ist, so wird sich zeigen, in der Lage, die Ursachen für die Unterbrechung religiöser Bildung, klassisch als ‚Katechese‘ bezeichnet, also die Weitergabe des Glaubensguts an die kommende Generation, zu ergründen oder zumindest besser zu verstehen. Denn dieser Mechanismus der ‚Weitergabe‘ ist definitiv unterbrochen. Junge Menschen, aber auch Erwachsene können und wollen aus vielerlei Gründen nicht mehr einfach das übernehmen, was Religion und Glaubenstradition, in unserem Fall das Christentum und die Kirche, überliefern. Die eigene Anschauung, aber auch empirische Studien und theologische Reflexionen bestätigen Phänomene, die als Traditionsabbruch, Vermittlungskrise, Entkirchlichung der Lebenswelt der Menschen, Entchristlichung der Milieus bezeichnet werden können.
Vor diesem kurz skizzierten Hintergrund lautet die Fragestellung der folgenden Ausführungen: Welche Elemente für die Erneuerung religiöser Bildung können unter der Bedingung der ambivalenten Situation unserer Zeit ausgemacht und weitergedacht werden? Es geht um Spurensuche und Reflexion dieser Spuren, also darum, was Religionspädagogik als Wissenschaft konstituiert, nämlich: Analyse, Erforschung – auch empirische Erforschung – der Situation religiöser Bildung und Reflexion der Ursachen für eine bestimmte Situation, um daraus Impulse für Neukonzeptualisierungen generieren zu können. Religiöse Bildung ist in der gegenwärtigen Gesellschaft unterbrochen. Diese Unterbrechung hat tiefere Ursachen, als oberflächliche, monokausale Erklärungen zu erkennen geben.
1. Unterbrechung religiöser Bildung als Folge der Ambivalenz der Moderne
1.1 Zerbrochene Moderne
Sehr häufig wird die Krise religiöser Bildung auf die Prozesse der Moderne zurückgeführt. Die von der philosophischen Aufklärung inspirierte und von der ökonomischtechnischen Modernisierung der Arbeits- und Produktionsbedingungen verursachte Entstehung der modernen Lebenswelt hat die Voraussetzungen für religiöse oder kirchliche Bildung radikal verändert. Vorschnell könnte die Moderne selbst als Ursache für die Krise religiöser Bildung identifiziert und den Prozessen der Modernisierung, die in einem gewissen Maße, wenn auch nicht vollständig, mit der Entwicklung der Säkularisierung einhergehen, die Schuld zugeschrieben werden, insbesondere dafür, dass die Menschen nicht mehr einfach traditionell denken und traditionsorientiert glauben, was an ihrer modernen, aufgeklärten, an Freiheit orientierten Lebensweise läge. Ohne Zweifel sind geistige Aufklärung und Bildung mit dem Ziel der Autonomie und Emanzipation, ebenso wie gesellschaftliche Modernisierung mit den einhergehenden Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung, Facetten einer Ursachenerklärung für die Vermittlungskrise. Sie greifen aber meines Erachtens als Erklärung des Gesamtphänomens zu kurz.
Denn sowohl der Aufklärung – und mithin der ‚Bildung‘, dem emanzipatorischen Programmbegriff der Aufklärung – wie auch der Modernisierung wohnt eine tiefe Ambivalenz inne, da sie zwar einerseits Freiheit, Autonomie und eine Ausweitung der Lebensmöglichkeit intendiert und bewirkt, anderseits jedoch eine zerstörerische Tendenz hat, die die ‚Träume des Projekts der Moderne‘ in Alpträume verwandeln kann. klärung und Moderne haben – so der britische Soziologe und Sozialphilosoph Zygmunt Bauman – „letztlich spektakulär versagt“, denn sie haben ihre Versprechen, den Kampf gegen die Ambivalenz zu gewinnen, an keiner Stelle der historischen Entwicklung eingelöst, wie Bauman über die Thesen Theodor W. Adornos und Max Horkheimers in deren „Dialektik der Aufklärung“ hinaus argumentiert. Im Gegenteil, der Versuch der abendländischen Aufklärung, die Welt zu humanisieren, führte in den Abgrund der menschlichen Geschichte, der den Ortsnamen Auschwitz trägt. Der Prozess der Aufklärung, die Moderne und ebenso die damit verbundene Bildung haben spektakulär versagt. Denn mitten im gebildeten und kulturell scheinbar hochstehenden Europa haben gebildete und äußerlich kultivierte Täter die Massenvernichtung von Menschen in die Realität umgesetzt, wie Bauman an anderen Stelle analysiert. „Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muss daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden.“
Diese Tatsache, so schreibt der Sozialanalytiker weiter, muss mehr als beunruhigen und aufrütteln, sie muss die menschliche Selbstzufriedenheit fundamental irritieren, was erst dann geschieht, wenn man den Holocaust im Kontext einer Theorie der Moderne untersucht. [...]
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