archivierte Ausgabe 3/2013 |
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Rudolf Hoppe |
„Nur sollten wir an die Armen denken …“ (Gal 2,10) |
Arm und Reich als ekklesiale Herausforderung |
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Einleitung
Papst Franziskus hat bei seinem Amtsantritt die soziale Frage in den Mittelpunkt gerückt und zu einem eminent ekklesialen Thema erhoben. In einem zunächst im Jahre 2010 geführten, in deutscher Übersetzung unlängst veröffentlichten Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka sagt er: „Die Armen sind der Schatz der Kirche, und man muss für sie sorgen; und wenn wir diese Vision nicht haben, werden wir eine mediokre, laue, kraftlose Kirche errichten. Unsere wahre Macht muss das Dienen sein.“ In ihrem Gespräch sind sich Bergoglio und Skorka darin einig, dass gerade die jüdischchristliche Tradition Potentiale beinhaltet, die nicht verschüttet werden dürfen. Damit denken beide Autoren gut biblisch, denn in der Parteinahme für die Armen weiß sich die urchristliche Überlieferung dem Erbe Israels verpflichtet. Die Sozialgesetze im Pentateuch, der Widerspruch der atl. Prophetie gegen die Entrechtung der Abhängigen ebenso wie die Option für die Armen in der Evangelienüberlieferung und Teilen der Briefliteratur des NT gründen letztlich in der Glaubensüberzeugung, dass der Schöpfergott das Leben gegeben und Israel das Land zugewiesen hat, dass er denen, „die Gott lieben“, zu Erben der Basileia erwählt hat (vgl. Jak 2,5). Von daher verbieten sich alle eigenmächtigen Besitzansprüche auf Kosten anderer. Für beide Teile der Bibel ist die soziale Frage deshalb ein in höchstem Maße theologischer Gegenstand. Das ist auch für die Verkündigung und das Wirken des Jesus von Nazaret der Ausgangspunkt; seinem Auftrag verpflichtet, ist das „soziale Gewissen“ von den bescheidenen Lebensverhältnissen der frühesten nachösterlichen Zeit an bis in die Phase der Konsolidierung der urchristlichen Gemeinden mit ihrer zunehmenden Differenzierung durch das Hinzukommen neuer Kreise der Städtegesellschaft eine Sache der Identität christlicher Existenz. Die einende Kraft der sozialen Verantwortung wird denn auch daran erkennbar, dass bei allen Differenzen zwischen den urchristlichen Gruppierungen des Anfangs auf dem Jerusalemer Apostelkonvent Einigkeit in der Sorge um die verarmte Gemeinde in der heiligen Stadt bestand und Teil der getroffenen Vereinbarungen wurde (Gal 2,10). Dieser Konsens scheint sich auch später trotz aller Kontroversen des Paulus mit den Galatern in der dortigen Gemeinde als tragfähig erwiesen zu haben (vgl. 1 Kor 16,1). Der letzte Grund für diesen Gemeinsinn liegt in der Botschaft und Praxis Jesu selbst.
1. Die Botschaft Jesu an die Armen
Das Land, in dem Jesus mit seiner Predigt von der Gottesherrschaft an die Öffentlichkeit trat, war eine sozial gespaltene Region. Zwar ist es richtig, dass Herodes Antipas (4–39 n. Chr.) die Infrastruktur Galiläas besonders durch den Wiederaufbau von Sepphoris und die Gründung des neuen Verwaltungszentrums Tiberias förderte, aber das hatte seinen Preis. Die kleinen Familienbetriebe hatten im Laufe der römischen Vorherrschaft zunehmend ihre Autonomie verloren und waren die Leidtragenden der Verpachtung des Landes an Großgrundbesitzer, die ihrerseits dem Vasallenkönig Antipas verpflichtet waren. Das führte zu sozialen Konfliktstoffen, die durch die Politik des Klientelkönigs, vor allem durch die infolge der Kosten der Gründung von Tiberias wachsende Steuerlast herbeigeführt wurden. Hinzu kam die schwierige religiöse Situation des galiläischen Judentums, die vom unausweichlichen Konflikt zwischen den notwendigen wirtschaftlichen Beziehungen zu den hellenistischen Landeignern und judäischer Toraobservanz herrührte. Die Vorbehalte gegenüber den Galiläern und die entschiedene Bestreitung der Möglichkeit messianischer Herkunft aus Galiläa in Joh 7,49–52 gehen möglicherweise auf schriftgelehrte judäische Kreise zurück und lassen erkennen, mit welcher Skepsis das Judentum des Nordens wahrgenommen wurde. Jesus selbst gehörte der (handwerklich) arbeitenden Bevölkerungsschicht an. Im Dorf Nazaret als „Sohn des tek, twn“ aufgewachsen (vgl. Mt 13,55), übte er Mk 6,3 zufolge den Beruf eines Bauhandwerkers aus. Mit Wahrscheinlichkeit lässt sich auch so viel sagen, dass die Familie Jesu keinen eigenen Handwerksbetrieb hatte, sondern Jesus und sein Vater als Tagelöhner unterwegs waren und sich an unterschiedlichen Orten mit ihrem Handwerk verdingten. Er kannte die Unterprivilegierten aus eigener Begegnung. Wenn er also seine Botschaft vor allem an die ländliche Bevölkerung der unteren sozialen Schichten richtete und die Städte wohl nicht zum Ort seiner Verkündigung machte, hängt das nicht ursächlich mit seiner Hinwendung allein zur jüdischen Bevölkerung zusammen, sondern mit der sozialen und religiösen Situation der Abhängigen, die sich vornehmlich auf dem Lande befanden. Sie wollte er mit seiner Botschaft von der Gottesherrschaft und von der mit seiner Person sich Geltung verschaffenden Änderung der Lebensverhältnisse erreichen. Da sein Menschenbild von der Leitidee israelitisch-jüdischen Glaubens geprägt war, dass der Mensch als Gottes Schöpfungswerk zu begreifen sei, nicht aber als Instrument wirtschaftlicher Interessen, war die Parteinahme für die Unterprivilegierten eine Konsequenz seines Gottesbildes und seines von diesem abgeleiteten Sendungsauftrags.
Das zeigt sich nirgendwo so prägnant wie in den jesuanischen Seligpreisungen. Die in der Spruchquelle Q überlieferten Heilrufe an die Armen, Hungernden und Weinenden lassen sich mit höchster Wahrscheinlichkeit auf die authentische Botschaft des verkündigenden Jesus zurückführen: Selig, ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Der erste Heilruf rückt die Mangelexistenz der Adressaten und die Bedrängnis ihrer akuten Not an die Spitze der programmatischen Rede Jesu: Die Armen sind die Benachteiligten, die ihre Situation aus eigener Kraft oder eigenem Wohlverhalten nicht bessern können. Sie sind die vollends Ohnmächtigen, die aller Mittel beraubt sind, mit denen sie sich behaupten könnten; es sind einfach nur diejenigen, die um das tägliche Überleben kämpfen müssen. Sie sind vor allem die Opfer des herodianischen Systems der Ausbeutung der Landbevölkerung, die ihr Land schnell verlieren konnte, wenn sie von Missernten getroffen oder Opfer des Pachtsystems wurde. Sie teilen ihr Schicksal mit den Hungernden, die in ihrer physischen Existenz bedroht wurden, weil sie unter dem Entzug der elementaren Lebensbedürfnisse litten. Sie sind schließlich auch in den Weinenden zu sehen, die sich angesichts ihres Ausgeliefertseins nur in der Klage artikulieren können. Sie machen mit ihrer Existenznot die verletzte Schöpfungsordnung offenbar, in der das jedem bedingungslos zustehende Lebensrecht dem Recht des Stärkeren untergeordnet wird.
Mit der Sprachform der Seligpreisung spricht Jesus seinen gedemütigten Adressaten gegenwärtiges Heil zu. Die Zusage der Teilhabe an der Gottesherrschaft hat hier und jetzt ihre Gültigkeit, so sehr die Einlösung der Änderung der Verhältnisse noch aussteht; die prophetische Zusicherung einer neuen Zukunft will aber das Unheil der Gegenwart aufbrechen. Was Jesus in Q 10,23 f grundsätzlich für sein Auftreten und Wirken als Vollzug der israelitischen Prophetie versteht und dementsprechend in Anspruch nimmt, das gilt in concreto für die Seligpreisung der Armen. Die Herrschaft gehört nicht denen, die „versucht sind, sich diese Herrschaft Gottes nach ihren und den Interessen ihrer Gruppen zurechtzulegen“, sondern diejenigen, die nichts gelten, sind die Empfänger der Zusage Jesu im Namen Gottes.
Indem der Prophet aus Nazaret Gottes Lebensordnung und ihre Gültigkeit, aber auch ihre Durchsetzungsfähigkeit beansprucht, spricht er den Ohnmächtigen eine bislang nicht erfahrene Würde zu. Deshalb wirkt sich der Zuspruch Jesu auch gegenwärtig schon lebensverändernd aus. Wenn die Armen dieser Zusage vertrauen können, hat sich ihre Welterfahrung bereits gewandelt.
Die Jesusüberlieferung ermöglicht uns über den Zuspruch Jesu an die am Rande des Existenzminimums Stehenden hinaus einen Einblick in seine Begegnung mit Menschen, die nicht an der untersten sozialen Skala standen und zu den Ärmsten gehörten, sondern immerhin ein, wenn auch bescheidenes, aber doch hinreichendes Auskommen hatten. Aus ihren Reihen kommen am ehesten die Jünger. Die Fischer, die Jesus für seinen Jüngerkreis gewann, sind nicht den völlig mittellosen Kreisen zuzuordnen, auch wenn sie sich wie die Bauern in Abhängigkeit von der hellenistischen Oberschicht befanden. Auch wenn Petrus ein Haus in Kapharnaum besessen haben sollte, ist das noch kein Anhaltspunkt für gehobene Verhältnisse, denn die Häuser in der Ortschaft lassen weder auf ganz ärmliche noch auf wohlhabende Verhältnisse schließen. Dass Josephus berichtet, Schiffer und Besitzlose hätten sich dem Aufstand gegen die Römer angeschlossen, spricht auch dafür, dass sie aus kargen Verhältnissen kamen. Selbst ein Zollpächter Levi ist nicht zu den gutsituierten Kreisen zu zählen. Wenn wir davon ausgehen können, dass die Berufung der Fischer in Mk 1,16–20 bei aller Stilisierung der Episode im Kern auf eine historische Grundlage zurückgeht, hat Jesus sich mit Menschen aus sehr einfachen Verhältnissen umgeben.
Dass er entscheidende Vorbehalte gegen Wohlhabende hat, wird im Falle des reichen Mannes, der Jesus nachfolgen will (Mk 10,17–27), offenkundig: Bei ihm sieht Jesus, dass sein Vermögen ihn in seinen bisherigen Bindungen und seiner Lebensvorstellung festhält und am eigentlichen Leben trotz aller Toraerfüllung hindert. Ihm ist es deshalb in der Sicht Jesu nicht möglich, den Weg mit ihm zu gehen und die Bedingungen zu erfüllen, die für die Jüngerschaft vorauszusetzen sind: den Verzicht auf alle materiellen Sicherheiten, die freilich in den Augen Jesu keine Sicherheiten sind.
Was Nachfolge bedeutet, macht Jesus dann in seiner Instruktion zur Aussendung der Jünger (Q 10,2–16; Mk 6,7–13) deutlich: Angesichts des bevorstehenden Einbruchs der Herrschaft Gottes und der damit verbundenen Überwindung von allem, was das Leben jetzt noch behindert, gilt es, die letzten (Schein)-Sicherheiten abzulegen und frei zu werden für die Wahrnehmung des Auftrags Jesu. Hier gewinnt die Anweisung zur Besitzlosigkeit ihre Konkretion: kein Brot (Mk 6,8), keine Provianttasche, keinen Geldbeutel, keine Sandalen, keinen Stock (Q 10,4), kein Geld (Mk 6,8). Der Verzicht auf Vorsorge materieller Art oder auch zum Eigenschutz qualifiziert die Jünger zu ihrer Sendung; für das Notwendigste zum Leben wird von den Adressaten der überbrachten Botschaft gesorgt (Q 10,8). Es geht Jesus dabei nicht um „Armut“ als solche, sondern die Reduktion aller Bedürfnisse steht im Dienst der Basileia-Verkündigung; für sie muss der Bote Jesu frei sein und sie in Übereinstimmung mit der eigenen Lebensführung glaubhaft machen können. Dass sich allerdings auch Begüterte in der Nachfolgekreis Jesu befinden, ist aus Lk 8,3 ersichtlich, und Joseph von Arimathäa, wohl dem Sympathisantenkreis Jesu zugehörig, dürfte der Oberschicht angehört haben.
Schließlich ist noch der Blick auf eine Gruppe im Kontext des Wirkens Jesu zu richten, die nicht dem engeren oder weiteren Jüngerkreis zuzurechnen ist, aber doch ihre Spuren in der Evangelienüberlieferung hinterlassen hat. Es sind Sympathisanten, die ihm auf dem Weg eigener Orientierungsversuche begegneten, sich aber nicht ständig in seinem Umfeld aufhielten. Ihnen ging es vor allem um die Frage eines gelingenden Lebens, um Lebensbewältigung und Sinnfrage. In ihre Situation sind weisheitliche Sprüche wie die vom Gewinn der Welt und dem Verlust des Lebens (Mk 8,36f), vom Schätzesammeln (Q 12,33f) oder die Sprüche vom Sorgen (Q 12,22–31), aber auch Gleichnisse wie das vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–21) hineingesprochen. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Adressaten dieser Sprüche um eher bessergestellte Kreise, die sich um ihr elementares Auskommen keine großen Sorgen machen mussten. Sie sollen davon überzeugt werden, dass es eine Illusion ist, das Leben in der Fixierung auf das Herbeischaffen und Haben gewinnen zu können. Vielmehr soll für sie das „einfache Leben“ zu einer grundsätzlich veränderten Lebensauffassung führen. Sie werden von Jesus nicht verworfen, aber es wird ihnen deutlich gemacht, dass ihre gegenwärtige Haltung zum Verlust des Lebens führt.
Fassen wir zusammen: Jesus selbst kommt aus der gesellschaftlichen Unterschicht, richtet mit seiner Predigt die Armen auf und sammelt eine Jüngerschaft um sich, die er an seiner Sendung beteiligt und die sein Programm mit ihrem eigenen Lebensstil zur Deckung bringt.
2. Urchristliche Rezeptionen
Die nachösterliche Jesusbewegung lässt sich nicht als eine „Gemeinde der Armen“ im qumranischen Sinne verstehen, denn bereits mit dem Hinzukommen der hellenistisch-jüdischen Jesusanhänger aus der eher städtischen Gesellschaft der Diaspora erweiterte sich das soziale Spektrum der ohnehin keineswegs homogenen Gruppierungen. Waren schon im offenen Nachfolgekreis Jesu begüterte Frauen zu finden, die das Wirken Jesu materiell unterstützten (Lk 8,3), so wären insbesondere die ersten Schritte der nachösterlichen Mission einer verarmten Unterschicht gar nicht möglich gewesen; auch setzt die Versorgung der verarmten Witwen der „Hellenisten“ (Apg 6,1f) Gemeindemitglieder voraus, die die Mittel aufbringen konnten, Unterstützung zu gewähren. Erst recht war das paulinische Missionsunternehmen ab Ende der 40er Jahre nur unter der Voraussetzung von finanziellen Ressourcen möglich, die eine arme Unterschicht nicht zur Verfügung hatte.
Die neue Herausforderung für die sich etablierenden Jesusgruppierungen liegt aber gerade darin, dass sie sich in relativ kurzer Zeit aus unterschiedlichen sozialen Milieus zusammensetzten und doch zu einem identitätsstiftenden Gruppenkonsens zusammenfinden sollten und wollten. Die Gemeinde von Korinth, die Anfang der 50er Jahre entstanden ist, lässt uns einen Eindruck von der sozialen Differenzierung gewinnen; in ihr kam die Mehrheit wohl aus den unteren Gesellschaftsschichten (vgl. 1 Kor 1,26– 31), den entscheidenden Einfluss aber hatten dann doch die Begüterten. Wie schwierig dieses Zusammenleben war, lässt sich sehr konkret aus den von Paulus kritisierten Zuständen bei der Herrenmahlfeier ersehen (1 Kor 11,17–34).
Insbesondere gewähren uns der Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte sowie der Autor des Jakobusbriefes einen Einblick in das soziale Spektrum und die inneren Verhältnisse früher Gemeinden, aber auch in die Strategien, ein Jesusprogramm fortzuschreiben, das aus seiner Ursprungssituation in neue strukturelle Verhältnisse transponiert werden musste. Bereits der Wechsel vom prophetischen Wandercharismatikertum im eher ländlichen Galiläa zur Gemeindebildung in Jerusalem, besonders aber zur Etablierung der hellenistisch-judenchristlichen Gemeinde in der Stadtgesellschaft einer Großstadt wie Antiochia oder später in Thessalonich und Korinth bedeutete einen Wechsel in der Organisation des Zusammenlebens. Doch gerade hier ist bemerkenswert, dass die jesuanische Option für die Armen, die Parteinahme für die Unterprivilegierten und die Warnung des Nazareners vor Reichtum und Selbstgewissheit ein Hauptkriterium für die Identität einer christlichen Gemeinde bleiben. Das ist eine entscheidende Konstante bei aller Variabilität und den unterschiedlichen Entwicklungen der regionalen Gemeindeverhältnisse.
a. Das Zeugnis des Lukas
Unter den Evangelienautoren ist es vor allem Lukas, der gezielt die soziale Botschaft Jesu aufnimmt und in der differenzierten Situation einer Adressatenschaft, die sicher bis in die Mittelschicht vorgedrungen war, mit der Parteinahme für die Armen und der Maßgabe des Teilens der Lebensgüter fortschreibt. Die bereits dem Wirken Jesu selbst zuzuweisende Zuwendung zu den Armen erfährt in der Jesuserzählung des Lukas ihre programmatische theologische Grundlegung im Lobgesang Mariens in der Vorgeschichte Jesu (Lk 1,46–55): Dieser Dankhymnus richtet sich an Gott, der seine Größe in der Entmächtigung der vermeintlich Mächtigen der Welt, in der Erhöhung der Armen und Erniedrigten sowie in seinem Urteil über die Reichen erwiesen hat. Das vom Dankgebet der Hanna in 1 Sam 2,1–10 inspirierte Lied konzentriert seine Botschaft auf das Spannungsverhältnis von Armen und Reichen und preist Gott für sein Erhöhungshandeln an den Armen, während er die Besitzenden mit leeren Händen weggeschickt hat, die demzufolge ganz aus dem Blickfeld geraten.
Damit ist die Sendung Jesu bereits präludiert: Der Geist Gottes, der Maria überschattet und aus dem heraus Jesus geboren wird, liegt auf ihm bei seiner Antrittsrede in Nazaret (Lk 4,16–30), in der er seine Sendung mit den Worten des jesajanischen Freudenboten proklamiert und ihre Erfüllung in seiner eigenen Person beansprucht. Mit der Kombination von Jes 61,1f und Jes 58,6 stellt sich der lukanische Jesus in die Prophetentradition hinein (Lk 4,18) und sieht in den Armen, Gefangenen und Zerschlagenen die Zielgruppe seines Wirkens; für sie vor allem ergreift er in ihrer Situation der Ohnmacht Partei. Wenn dann mit den „Gebeugten“ in Lk 4,18 die Schuldsklaven gemeint sind, die von ihren Herren gefangen gehalten werden, sind sie in ihren sozialen Bedrückungen angesprochen und stehen in einer Reihe mit den Armen. Durch diese programmatische Aussage wird die Sendung Jesu zu den Armen aber auch zum zentralen Inhalt seiner Reich-Gottes-Botschaft. Wie Gott in der lukanischen Vorgeschichte Maria in ihrer Rolle als Repräsentantin der Armen ohne sozialen Status begnadet hat, so besteht nun die Sendung Jesu darin, an Gottes Stelle den Armen und Verachteten die ihnen entsprechende Würde zukommen zu lassen.
Dass die sozialen Randgruppen zur Herausforderung für eine christliche Gesellschaft werden, die in der städtischen Mittelschicht ihren Platz gefunden hat, lassen die Mahlszenen in Lk 14,12–14 und 14,16–24 erkennen. In der Gastgeberregel 14,12–14 will der lukanische Jesus auf die Aufhebung und Überwindung des eingefahrenen Statusdenkens hinwirken. Die Armen und Kranken stellen die üblichen Denkschemata, die sich auf das Prinzip der Gegenseitigkeit eines „do ut des“ gründen, in Frage, weil sie nichts zu geben haben. Sie sind es, die der lukanische Jesus in den Mittelpunkt rückt. Insofern sind die Unterprivilegierten der Prüfstein für die Bewahrung der Praxis Jesu in einer veränderten Welt. An ihnen können sich die Wohlhabenden bewähren, um so ihrerseits die Voraussetzungen für ihre rechte Disposition im Eschaton zu schaffen. Diese Botschaft sagt insbesondere das Gleichnis vom Festmahl Lk 14,16–24 aus; denn die Armen, Krüppel, Blinden und Lahmen folgen der Einladung des Gastgebers unmittelbar, ohne dass sie mit der Einladung irgendwie rechnen konnten, während die Ersteingeladenen auf die Einladung vorbereitet sein mussten, aber andere Prioritäten setzten. Von den Randgruppen, die nichts besitzen, geht das entscheidende Signal aus, die Mittellosen werden zum Paradigma für die Teilhabe am Reich Gottes (vgl. 14,15). Eine ähnliche Intention steht hinter den Gleichnissen vom ungerechten Verwalter (Lk 16,1–13), dem Lazarusgleichnis (Lk 16,19–31), der lukanischen Version der gescheiterten Nachfolgebemühung des reichen Mannes (Lk 18,18–30) oder der Zachäusgeschichte Lk 19,1–10.
Die Warnung des lukanischen Jesus vor dem Reichtum und vor einer in den Gütern der Welt eingerichteten Existenz gründet sich auf die Überzeugung, dass diese Lebensauffassung den Blick für die im Wirken Jesu schon anwesende Basileia verstellt und der Reiche sich damit selbst verfehlt. Exemplarisch für das irreversible Scheitern am sozialen Anspruch Jesu und damit auch der frühen Gemeinde stehen das Ehepaar Hananias und Saphira in Apg 5,1–11, die sich dem gemeinschaftlichen Teilen verweigern, vom „freien, aber sozial verantworteten Gebrauch der Güter“ nichts verstehen und deshalb ihr Leben verlieren. Die Idee des Teilens und Almosengebens, die für das Evangelium und die Apostelgeschichte leitend sind (Lk 3,10–14; Apg 2;20), ist deshalb kein „Kompromiss“ mit den sogenannten sozialen Realitäten, sondern in der Sicht des Evangelisten der gebotene Weg, den Gefahren des Reichtums und dem „Wehe“ von Lk 6,22 zu begegnen. Von der hinter Lk 4,18 stehenden Botschaft Jesu werden die Jesusnachfolger nicht dispensiert, vielmehr zeigt Lk, dass den der Botschaft Jesu angemessenen Weg die Jerusalemer Urgemeinde mit der Praxis des Teilens und der Armenversorgung geht (Apg 2,42–47; 4,32–37).
b. Eine notwendige Stimme: Der Jakobusbrief
Zur fundamentalen ekklesialen Herausforderung wird das Spannungsverhältnis von „Arm und Reich“ im Jakobusbrief. Zweifellos hat der Brief die soziale Intention Jesu sehr authentisch bewahrt. Im Verhältnis zu den in diesem Schreiben ansonsten behandelten Themen ragt die soziale Frage schon an Umfang deutlich heraus. In etwa zeitgleich mit dem lukanischen Doppelwerk wohl in den 80er Jahren des 1. Jh.s n. Chr. entstanden, richtet sich auch der Jak an einen sozial bereits heterogenen Adressatenkreis, in dem sich arme Gemeindemitglieder befanden (1,9f; 1,26f; 2,5), in dem es aber nicht minder um eine Positionierung zu den Reichen ging, die außerhalb der Gemeinden standen (2,6f; 5,1–6).
Wenn in Jak 1,9f verallgemeinernd davon die Rede ist, dass der Arme (tapeino,j) sich seiner Höhe rühmen soll, ist davon auszugehen, dass eine Reihe von Mitgliedern in der jakobeischen Gemeinde lebten, die am unteren Rand der wohl städtischen Gesellschaft standen und deshalb der besonderen Zuwendung bedurften. Dass sie soziale Absteiger waren, die mit der Annahme des Christusglaubens und des mit ihm verbundenen Wertesystems, das einer hellenistischen Gesellschaft fremd sein musste, den Nachteil von gesellschaftlicher Isolation und daraus folgenden wirtschaftlichen Problemen in Kauf nehmen mussten, ist eine durchaus plausible Hypothese. Jedenfalls ist der tapeino,j von Jak 1,9 Bedrängnissen ausgesetzt, die eine Folge des Glaubens sind. Die Anfechtung des Glaubens, die der Jak-Autor zu Beginn seines Schreibens thematisiert (1,2), hat neben der Gefahr der Wankelmütigkeit (vgl. 1,6–8) insbesondere eine soziale Dimension. Dem tapeino,j wird „Höhe“ vor Gott zugesprochen, die die schwierige Gegenwartserfahrung bewältigen lassen soll. Damit ist wie im lukanischen Magnificat ein Statuswechsel, eine Umwertung weltlicher Werte verbunden; der Arme ist vor Gott in eine Würdestellung versetzt, die ihm ansonsten von seiner Umwelt abgesprochen wird. Während aber die von Gott zugesprochene Würde bleibenden Charakter hat, wird dem Reichen vom Briefautor in Aufnahme prophetischer Predigt (vgl. Jes 40,6b–8) jegliche Zukunftsperspektive abgesprochen; er hat nur die Funktion, darzustellen, dass Gott auf der Seite des Armen, der seine Existenz im Glauben bewältigen kann, steht.
Wie wenig plausibel nach herkömmlichen Maßstäben diese Botschaft ist und wie schwer sich die Adressatenschaft des Jak als christliche Gemeinde in der Realisierung dieses Gottesbildes tut, wie sehr sie sich vielmehr von den Reichen beeindrucken lässt, macht der Autor am Beispiel einer gottesdienstlichen Versammlung deutlich. Die fiktionale Szene, in der er einen Reichen und einen Armen in einen Gemeindegottesdienst eintreten und die Anwesenden den Reichen hofieren, den Armen aber entehren lässt (2,2f), um damit die vorausgehende Mahnung, den Christusglauben nicht in Personenbevorzugung zu vollziehen, zu begründen, legt die immer noch bestehenden Defizite innerhalb des Adressatenkreises offen.45 Er lässt sich von den Reichen blenden und widerspricht in der Sicht des Briefautors nicht nur dem Erwählungshandeln Gottes, der gerade die in den Augen der Welt Armen erwählt und ihnen die Basileia verheißen hat, sondern ihr Verhalten ist auch aus sehr einfachen pragmatischen Gründen ganz unangebracht, da die Reichen die Konvertiten zum Christusglauben unterdrücken und schmähen (2,5–7). PsJakobus argumentiert also primär theologisch, aber auch sehr einfach ekklesial-erfahrungsbezogen. Ein solcher Gottesdienst ist das eklatante Gegenteil vom Gottesdienst, wie Jakobus ihn unmittelbar vorher in der Zuwendung zu Witwen und Waisen in Not und der Distanzierung von den Mechanismen der Welt beschrieben hatte (1,26f). Das Schicksal der Reichen, das Jak 1,10f mit deren Vergehen beantwortet hatte, bleibt hier im Hintergrund – auf sie kommt er in 5,1–6 zurück; in 2,1–7 geht es allein um die Erinnerung an Gottes Parteinahme für die Armen und die Aufdeckung des inneren Widerspruchs, den die Gemeinde korrigieren muss. Die einzige Stelle, an der der Jak christliche Begüterte unmittelbar ins Visier nimmt, findet sich in 4,13–17. Er spricht sie aber nicht als plou,sioi, sondern in ihrer Tätigkeit als gewinnorientierte Geschäftsleute an, die allzu sorglos und selbstfixiert ihren Geschäften nachgehen und dabei vergessen, sich Gott zu verdanken und sich unter seinen Vorbehalt zu stellen. In einer dringlich gehaltenen gehaltenen Mahnung (a;ge nu/n) erinnert er sie an ihre Verantwortung vor Gott (4,14f).
Dem lässt PsJakobus in 5,1–6, wiederum eingeleitet durch a;ge nu/n, eine prophetische Anklage gegen die (außerchristlichen) Reichen (plou,sioi) folgen. Die im Abschnitt verwendete Metaphorik signalisiert überdeutlich die Endgültigkeit ihres verfehlten Lebens und die Unabänderlichkeit ihres Untergangs. Das pragmatische Ziel des Autors ist freilich wie in 1,9–11 in erster Linie die Vergewisserung der Adressaten auf ihrem Weg. Dem diente in 1,12 die Perspektive des „Lebenskranzes“ für das Bestehen der peirasmoi,, dem dient in 5,7 ff nach dem Verdikt gegen die Reichen die Mahnung zur Geduld angesichts der Parusie des Kyrios. Die Polemik gegen die Reichen hat aber ebenso die Funktion, drastisch vor dem Reichtum zu warnen, der nichts als „Freundschaft mit der Welt“ (Jak 4,4) ist.
Insgesamt schafft der Jak mit seiner sozialen Thematik einen theologischen und paränetischen Zusammenhang, der die christlichen Adressaten der Nähe Gottes auch in ihren bescheidenen Möglichkeiten versichern, sie zur Abgrenzung von den Reichen ermutigen, sie an ihre eigene soziale Verantwortung erinnern und das Festhalten am eigenen eingeschlagenen Weg bestärken will.
Fazit
Als Fazit dieser kurzen Skizze lässt sich sagen: Dass die Armen der „Schatz der Kirche“ sind, wie J. Bergoglio/Papst Franziskus formuliert, liegt ganz in der Tradition der Jesusbotschaft. Auch die Forderung des Bischofs von Rom, den Armen zur Überwindung ihrer Situation zu verhelfen, stimmt mit der Option neutestamentlicher Überlieferung überein. Hier greift vor allem die lukanische Idee des Teilens, die daran erinnert, dass ungerechte Strukturen überwunden werden müssen und können. Schließlich zeigt der Jak, wie sehr die soziale Frage eine ständige Herausforderung für die christliche Gemeinde ist. Das Lukasevangelium und der Jakobusbrief haben die Intention Jesu präzise in die Zeit einer sich pluralisierenden christlichen Gesellschaft transponiert und genau gesehen, dass sich christliche Identität am Umgang mit den Armen und Schwachen entscheidet.
Summary
The basileia-message of Jesus of Nazareth pertained above all to the victims of the cultural and economic upheavals of his time in his Galilean homeland. But for him the poor and the powerless also represented, in a fundamental way, a challenge for the belief in God the Creator. The proclamation and praxis of Jesus carried an obligation since, in the course of establishing the Jesus-faith in the prospering urban society, the post-Easter community, which had rapidly become socially diversified, faced the task of preserving its identity as advocate of the ordinary people. The Gospel of Luke and the Acts of the Apostles as well as the Epistle of James reveal, by way of example, that the sensitivity for the great social demand radiating from the Nazarene was kept alive in the early Christian development as a binding norm despite all the dangers of letting oneself be blinded by riches. In a time-transcending way this is also the binding legacy of the Judeo-Christian tradition.
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