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Leseprobe 1 DOI: 10.14623/thq.2018.1.10-22
Peter Strohschneider
Krisen von Vorbehaltlichkeit
Vortrag zum 200jährigen Bestehen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
1. Vorbemerkungen

Mit Gott gegen die Wissenschaft? Es gibt in der Tat einen derartigen Anspruch, Gott auf seiner Seite zu haben bei der Negierung wissenschaftlicher Erkenntnisverfahren und Erkenntnisse. Und er ist so alt wie eine ihm entgegenstehende Positivierung der Wissenschaften, die sich darauf berufen mag, dass menschliche Erkenntnisfähigkeit eine göttliche Gabe sei. Heutzutage kann man solche antiwissenschaftlichen Haltungen sich etwa manifestieren sehen in religiös begründeten Negierungen wissenschaftlicher Erkenntnis; z. B. in (sei es christlicher, sei es islamischer) neokreationistischer Ablehnung von Evolutionstheorie, in der bizarren Behauptung von der Scheibenförmigkeit der Erde, bei Impfgegnern oder auch im Streit um den anthropogenen Klimawandel. Und an manch anderer Stelle.

Beobachtete man solche Kontroversen allein auf der Ebene der sachlichen Wissensansprüche, die hier jeweils miteinander konkurrieren, dann wäre freilich in religiös begründeter Wissenschaftsnegierung wenig mehr zu sehen als dumpfer Obskurantismus, wo nicht Wirklichkeitsverlust. Dann würde man aber auch die tiefer liegenden gesellschaftlichen Verschiebungen übersehen, die sich darin manifestieren – wenn auch womöglich darin nicht allein. Derartige Verschiebungen haben in der einen oder anderen Weise damit zu tun, dass und wie religiöse Gewissheiten als Wissensquelle in Anspruch genommen und in Stellung gebracht werden gegen die Methodizität wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion. Es sind solche Verschiebungen, auf die ich im Folgenden die Aufmerksamkeit lenken möchte.

Mit ihnen hat auch zu tun, dass sich aktuelle Formen religiös motivierter Wissenschaftsnegierung vermutlich nicht mehr gut erläutern lassen anhand der historischen Modelle kirchlicher Wissenschaftskritik (der Index Librorum prohibitorum, die Causa Galilei und vergleichbare Fälle). Sie ordnen sich, so scheint mir, vielmehr ein in ein weites und spezifisch modernes Feld von Strömungen, überhaupt den Zumutungen von Modernisierung entgehen zu wollen. Für derartige Zumutungen stehen nicht allein die Wissenschaften, sondern gleichermaßen auch die pluralistische verfasste Gesellschaft oder der demokratische Verfassungsstaat. Und es haben diese Zumutungen jeweils auch zu tun mit der Pluralisierung der Weltorientierungen; mit der daraus sich ergebenden Kontingenz dessen, was der Fall ist; sowie mit einer Haltung der Vorbehaltlichkeit, zu der Individuen und Kollektive eben deswegen genötigt sind.

Derartige Zumutungen und solche Versuche, ihnen auszuweichen, lassen sich übrigens auch als Fragen der Text- und Auslegungstheorie erläutern. Und so will ich es hier versuchen – naheliegender Weise schon insofern, als katholische Theologinnen und Theologen sich ja mit Schriftoffenbarung befassen, und weil ich selbst in mancher Hinsicht doch immer noch ein Literaturwissenschaftler bin.

Es folgen also einige Bemerkungen zum gegenseitigen Verhältnis von religiösen Gewissheiten und wissenschaftlicher Erkenntnis.1 Und dabei soll es um beide Richtungen dieser Relation gehen: Einerseits also um die Beobachtung von Wissenschaft aus der Perspektive religiöser Gewissheiten – der radikale Fall ist hier eben religiöse Wissenschaftsnegierung (Mit Gott gegen die Wissenschaft). Dem gegenüber steht auf der anderen Seite die Beobachtung von Religion aus der Perspektive der Wissenschaften – also unter anderem der Fall religionswissenschaftlicher und theologischer Forschung. Was ich insofern zu sagen weiß, das soll entlang von sechs Thesen entwickelt und zur Diskussion gestellt werden. Sie besagen: Das Religiöse sei (1.) in unserer Gegenwart nicht durch Säkularisierung, sondern durch Pluralisierung gekennzeichnet. (2.) Im religiösen Pluralismus stecke für Glaubensgewissheit die Zumutung des Vergleichenmüssens. Diese mache (3.) eine Haltung der Vorbehaltlichkeit nötig und verlange eben deswegen nach akademisch verantworteten Theologien. Die Vorbehaltlichkeit allen wissenschaftlichen, auch allen theologischen Wissens gehöre allerdings (4.) ihrerseits zu jenen Zumutungen, mit denen glaubensgewisse Vorbehaltslosigkeit in der Moderne konfrontiert sei. (5.) Auch jenseits des religiösen Feldes sei eine Atrophie solcher Mittelbarkeiten und Vorbehaltlichkeiten zu beobachten, die für Theologien wie überhaupt für moderne Wissenschaften konstitutiv sind. Religiös begründete Wissenschaftsnegierung ordne sich daher (6.) ein in eine allgemeinere Vertrauenskrise der modernen Wissenschaften.

2. Religiöse Pluralisierung

Die meisten von uns – Gläubige und weniger Gläubige, Agnostikerinnen oder Atheisten – wurden in einer Zeit akademisch sozialisiert, als die ‚Säkularisierungsthese‘ große wissenschaftliche Plausibilität besaß: die generelle Annahme also, dass das Religiöse2 jedenfalls im öffentlichen Raum der Gesellschaft fortschreitend an Verbindlichkeit verliere: Es handele sich – so konnte man beispielsweise sagen – bei Religion um einen sozusagen alteuropäischen Rest, welcher im Zuge der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in residuale Subsysteme eingekapselt (Niklas Luhmann) oder aber durch diskursethische Selbstaufklärung aufgelöst (Jürgen Habermas) werde. Und man musste bloß Kirchenaustritte mit Säkularisierung verwechseln, um diese These für auch empirisch gut belegt halten zu können.

Dies hat sich geändert. Die ‚Säkularisierungsthese‘ verliert an Plausibilität; jüngst hat Hans Joas sie einer ausgreifenden Kritik unterzogen und die ‚Entzauberung der Welt‘ ihrerseits sozusagen zu entzaubern versucht.3 Denn es lässt sich ja nicht übersehen, dass Verfassungen mit einer scharfen Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften weltweit eher die Ausnahme als die Regel sind; dass Lebenswelten vielfältig durch religiöse Bindungen geprägt sind; dass diese Bindungen kollektive Zugehörigkeiten bestimmen; und dass sie oft eine entscheidende Dimension vieler – sei es lokaler, sei es globaler – Konflikte darstellen.

Das Religiöse verliert also keineswegs an Bedeutung. Gleichwohl unterliegt es einem tiefgreifenden Gestaltwandel. Es büßt nämlich vielerorts an Einheitlichkeit ein. Auch die Gesellschaft der Bundesrepublik ist durch fortschreitende religiöse Pluralisierungsprozesse gekennzeichnet. Sie finden zwischen wie in den Religionsgemeinschaften statt, und sie gehen damit einher, dass sich die Übergangsfelder zwischen Religion und anderen kulturellen Formationen ausdehnen – in Starkult und Wellness-Industrie, in politischen Symboliken oder im Neo-Kreationismus des Intelligent Design, der seine Deutungsmacht nicht allein in den USA ausbaut. All dies Bereiche, in denen das Religiöse seine klare Abgrenzbarkeit von Kunst und Sport, von Politik und Wirtschaft, von Bildung und Forschung bestreitet – mithin gerade seine Wirklichkeitsmächtigkeit behauptet.

Unsere erste These lautet also: Nicht Säkularisierung, sondern Pluralisierung des Religiösen. Und damit ist nun allerdings nicht lediglich dies gemeint, dass die Anzahl religiöser Orientierungen, Denominationen, Formen sich vermehre: Es geht viel grundsätzlicher darum, dass man schwer vermeiden kann, eben dies auch zu wissen. Es geht nicht bloß um Pluralität, sondern um Pluralismus.

3. Vergleichszumutungen

Um diese entscheidende Differenz zwischen dem, was der Fall ist, und dem, was man darüber weiß, zu veranschaulichen, bediene ich mich eines kleinen Denkbildes, das der Soziologe Dirk Baecker vor Jahren einmal entwarf4:

„Man muß sich das vorstellen: Ein Gläubiger kniet nieder und beginnt ein Gebet. Ein Intellektueller stellt sich neben ihn und sagt: ‚Wie interessant! Weißt du, daß andere Völker an ganz andere Götter glauben?‘ Wie kann der Gläubige, der an seinen Gott glaubt, darauf reagieren?“

Nicht immer wäre eine solche Begegnung ganz unspektakulär gewesen. In unserer Gesellschaft ist sie es. Hier können Glaubenserfahrung und Glaubenspraxis beinahe jederzeit dem distanzierten Blick derjenigen ausgesetzt sein, die sie nicht teilen, die nicht zur ‚Gemeinde‘ gehören. Religiöse ‚Gemeinde‘ und Gesellschaft sind auseinandergetreten. Es gibt unterschiedliche ‚Gemeinden‘ in der Gesellschaft, und man kann der Gesellschaft zugehören, ohne überhaupt an irgendeiner Religionsgemeinschaft teilzuhaben.

Unter solchen Gegebenheiten ist es mehr oder weniger alltäglich, dass eigene Glaubenspraxis von anderen beobachtet wird und dass man selbst die fremde Glaubenspraxis anderer mit der eigenen vergleicht. Und alle wissen, dass dies ganz alltäglich ist. Man kann glaubensgewiss mit dem Gebet beginnen wollen und gerade deswegen methodisch distanziert beobachtet werden von jemandem, der meint, es sei eben jetzt der Hinweis angemessen,

„daß andere Völker an ganz andere Götter glauben[.]‘ Wie kann der Gläubige, der an seinen Gott glaubt, darauf reagieren? Natürlich lehnt er die Zumutung des Vergleichs ab, hält den Intellektuellen für einen Neunmalklugen und die anderen Völker für ungläubig. Aber in Wahrheit ist er bereits erschüttert. In Wahrheit hat ihn bereits eine Unruhe erfaßt. Wie kann er glauben, wenn andere anderes glauben? Was kann er wissen, wenn andere anderes wissen? Wer ist sein Gott, wenn andere ihn nicht kennen? Wie weit reicht die Macht seines Gottes, wenn andere ungestraft ihren Götzen huldigen dürfen?“

Glaubensgewisse Vorbehaltslosigkeit wird hier distanziert beobachtet. Der Intellektuelle sieht – und artikuliert! – ihre Kontingenz und stellt sie unter den Vorbehalt gegebener Alternativen. Dies ist für den Gläubigen irritierend: die distanzierte Beobachtung schon als solche; die Bewusstmachung von Religionsdifferenz. Sodann indes zudem der Umstand, dass in der intellektuellen Perspektive distanzierter Beobachtung diese Religionsdifferenz keineswegs eine Herausforderung zu existenzieller Entscheidung ist (Wenn es mehrere gibt: Welches ist dann der wahre Gott?). Irritierend ist, dass existenzielle Wahrheits- und Gewissheitsfragen hier vielmehr gerade vergleichgültigt sind.

Beunruhigend, gar erschütternd wirkt auf den Gläubigen in diesem Denkbild das, was man die „Zumutung des Vergleichs“ (D. Baecker) nennen kann: die Zumutung des Vergleichenmüssens auch dort, wo es um Unvergleichliches geht; die Zumutung einer analytisch-distanzierten Vorbehaltlichkeit gerade dann, wenn es auf Vorbehaltslosigkeit ankommt. Es ist die Zumutung, unterscheiden zu müssen zwischen der Vorbehaltslosigkeit im Binnenverhältnis von Gläubigem und Gott einerseits und andererseits der Vorbehaltlichkeit im Verhältnis auf die soziale Umgebung.

Unsere zweite These lautet daher: Der religiöse Pluralismus moderner Gesellschaften ist verbunden mit dem Vergleichenmüssen unterschiedlicher Weltorientierungen. Und darin steckt für den religiösen Glauben als solchen eine Zumutung. Jedermann muss Glaubensgewissheit – wenn er sie denn hat – kontrafaktisch durchhalten im Wissen darum, dass andere andere Gewissheiten besitzen. Und dass wieder andere Glaubensgewissheit überhaupt für allenfalls ‚interessant‘ halten, wie eben, oder für psychopathologisch, wie die Neo-Darwinisten um Richard Dawkins. Was glaubensgewiss ist und vorbehaltslos gilt, ist unter den Bedingungen der Moderne nicht auch selbstverständlich. Es ist womöglich subjektiv ohne Alternative, doch objektiv steht es unter dem Vorbehalt, dass andere andere Vorbehaltslosigkeiten pflegen.

Religiös pluralistische (also: heutige, moderne) Gesellschaften konfrontieren Gläubige stets mit der Zumutung, gerade dort, wo es um Unzweideutigkeit, um die glaubensgewisse Preisgabe aller Vorbehalte geht, zugleich eine Haltung der Vorbehaltlichkeit pflegen zu müssen. Sie anerkennt die Möglichkeit von Alternativen, also auch von Unübersichtlichkeit und Überkomplexität. Sie rechnet mit Kontingenz, also mit der Möglichkeit des Glaubensirrtums und zukünftigen Revisionsbedarfs (und das hieße hier: Konversionsbedarfs). Sie setzt daher eine Fähigkeit zur Selbstdistanz voraus.

4. Vorbehaltlichkeit von Theologien

An dieser Stelle kommen nun akademische Theologien und ‚religiöse Bildung‘ ins Spiel. Denn die Gleichzeitigkeit und Spannung von Glaubensfestigkeit und Kontingenzbewusstsein, von Vorbehaltslosigkeit und Vorbehaltlichkeit ist nicht einfach und ohne weiteres auszuhalten und durchzustehen. Vielmehr ist sie für Individuen wie für Gesellschaften enorm voraussetzungsreich und herausfordernd; die religiösen Bürgerkriege der frühen Neuzeit haben das den Europäern grauenvoll ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt. Kontingenzbewusste religiöse Gewissheit, glaubensfeste Vorbehaltlichkeit müssen vielmehr entwickelt, gelernt und kontinuierlich gepflegt werden. Hier liegt die – in ihrer gesellschaftlichen Bedeutsamkeit schwerlich zu überschätzende – Aufgabe der religiösen Bildung. Sie ist etwas viel Anspruchsvolleres als nur dies, Kinder mit der jeweiligen religiösen Überlieferung vertraut zu machen und in die richtigen Rituale und Liturgien einzuüben. Instruktion ist nur ein Teil religiöser Bildung.

‚Bildung‘ ist vielmehr eine Kategorie der Mittelbarkeit und Reflexion. Sie beschreibt die Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückzubeugen – Re-Flexion – , also sich selbst sich zuzuwenden, indem man von sich Abstand nimmt: ‚Bildung‘ ist die Fähigkeit und Freiheit zur Selbstdistanz. Religiöse Bildung wäre dann das Vermögen, im individuellen Selbst auszugleichen, was spannungsvoll zueinandersteht: hier unmittelbare und vorbehaltslose Glaubensgewissheit im vertikalen Verhältnis des Individuums auf Transzendenz hin und dort reflexiv vermittelte Vorbehaltlichkeit und Kontingenzbewusstsein in der Horizontale sozialer Beziehungen mit anderen – also auch mit Andersgläubigen und Nichtgläubigen.

Religiöse Bildung in diesem Sinne ist ebenso anspruchsvoll wie unabschließbar. Sie setzt unter anderem hochqualifizierte Erzieher und Lehrerinnen und also auch entsprechenden Qualifizierungsinstanzen voraus, nämlich: akademische Theologie. Das ist meine dritte These: Die wegen des Pluralismus der Weltorientierungen in modernen Gesellschaften notwendige Haltung der Vorbehaltlichkeit auch dort, wo es um glaubensfeste Vorbehaltslosigkeit geht, ist nicht zu haben ohne eine universitär integrierte und akademisch verantwortete Theologie.

‚Theologie‘ verstehe ich dabei zunächst als genuine wissenschaftlich-reflexive Durcharbeitung religiöser Bestände. Und ‚akademisch verantwortet‘ ist sie, wenn zweierlei gilt: Sie ist einerseits gerade nicht reduziert allein auf das, was bloß direkt zur Ausbildung des pädagogischen und religiösen Personals erfordert wird. Und sie unterscheidet sich andererseits durch eine spezifische Epistemologie (und Textualität) von jenen ehrwürdigen Traditionen der gelehrten Schriftpflege, wie sie alle Buchreligionen mit der Schließung der Prophetie entwickeln: dann also, wenn der direkte prophetische, messianische, offenbarungsschriftliche Transzendenzkontakt beendet ist.

Ihre Wissenschaftlichkeit stellt die theologische Selbstreflexion von Religion vielmehr unter den besonderen Anspruch, dass ihre Rationalität und Methodik kontinuierlich entwickelt, gerechtfertigt und weiterentwickelt werden im direkten Austausch mit den anderen Wissenschaften. Völlig anders als für Religion gilt nämlich für Theologien als moderne Wissenschaften ein Neuheitskriterium und Fortschrittsimperativ. Und das heißt: Jeweiliges wissenschaftliches Wissen gilt hier lediglich für jetzt und für die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft. Und diese müssen grundsätzlich damit rechnen, dass andere es jetzt schon oder dass sie selbst es künftig besser wissen können.

Als moderne Wissenschaften erzeugen also auch die bekenntnisgebundenen Theologien keineswegs Glaubensgewissheiten, sondern wissenschaftliches Wissen – ein Wissen also, das allein im Modus der Selbstinfragestellung behauptet werden kann und das stets nicht nur mit einem temporalen, sondern vor allem auch mit einem epistemischen Ungewissheitsvorbehalt versehen ist. Im Unterschied zur Religionswissenschaft sind Theologien also ein Modus der reflexiven Selbstdistanzierung religiöser Gewissheiten; dies ist die paradoxe Raison ihrer Bekenntnisgebundenheit. Als bekenntnisgebundene Wissenschaften erzeugen sie methodisch zwar verlässliches, aber ungewisses Wissen über vorbehaltslose Glaubensgewissheiten. Die Vorbehaltlichkeit dieses ihres Wissens ist sozusagen der Preis für den Status der Theologien als moderne Wissenschaften – und ihre kategoriale Differenz gegenüber den ehrwürdigen Traditionen gelehrter frommer Textpflege.

5. Atrophie von Unterscheidungen I: Fundamentalismus

Weil nun die Theologien der Juden-, Christen- und Muslimtümer reflexive Selbstdistanzierungen von religiösen Gewissheiten sind, welche durch Schriftoffenbarung verbürgt werden, lassen sich die bisherigen Überlegungen auch an Problemen der Textund Verstehenstheorie erläutern. Ich komme damit zum zweiten Teil meines Referats, in dem ich versuche, die bisher vorgestellten Kategorien und Thesen auch textualitätstheoretisch zu wenden und zugleich von der wissenschaftlichen Beobachtung von Religion auf die religiöse Beobachtung von Wissenschaft überzugehen.

Sein epistemologischer Status als vorbehaltliches, weil dem Prinzip methodischer Skepsis unterworfenes Wissen, so hatten wir gesagt, unterscheide das Wissen moderner, akademisch verantworteter Theologien kategorial von demjenigen der frommen Textpflege. Dieser Status indes hat Voraussetzungen, nämlich insbesondere eine methodologisch ausgearbeitete Hermeneutik. Sie unterscheidet sich von allegorischer Textauslegung. Theologen konzipiert sie nicht als vom kanonischen Text Ergriffene, sondern als über die Interpretationsmöglichkeiten des Textes wissenschaftlich Streitende, und sie hält (mit F. D. E. Schleiermacher) das Missverstehen für den wahrscheinlichen, das Verstehen hingegen für den Ausnahmefall. Theologische Hermeneutik bestimmt sich also darüber, dass gegenüber den Traditionen der frommen Textpflege – wenn ich noch einen Moment so vereinfachend weitersprechen darf – eine Reihe von sehr prinzipiellen und weitreichenden Unterscheidungen, Indirektheiten, Vermitteltheiten eingeführt wird, nämlich (1.) katholisch-dogmatisch (mit dem Vaticanum II) die Differenz zwischen Gotteswort und Menschenwort, (2.) theologisch die Differenz zwischen Offenbarung und Offenbarungszeugnis und (3.) texttheoretisch die Differenz zwischen Wortlaut und Sinngestalt eines Textes.

Solche Unterscheidungen wären nun gewiss nach verschiedenen Seiten hin verstehenstheoretisch, texttheoretisch, wissenschaftstheoretisch, theologisch auszubuchstabieren. Ich schließe stattdessen hier eine vierte These an: Eine solche Epistemologie des Abstands, der Vermitteltheit, der Unterscheidungen samt ihrer Vorbehaltlichkeit (wie sie für theologisches, überhaupt für wissenschaftliches Wissen konstitutiv ist), sie gehört selbst ins Zentrum jener provokanten Zumutungen, mit denen glaubensgewisse Vorbehaltslosigkeit in der modernen Welt konfrontiert ist.

Die Härte dieser Zumutung lässt sich vermutlich besonders eindrücklich dort beobachten, wo die Unterscheidungen kollabieren, die soeben als Voraussetzungen wissenschaftlicher Theologien benannt wurden. Dies ist am radikalsten bei religiösen Fundamentalismen der Fall, jedenfalls bei den fundamentalistischen Versionen der monotheistischen Schriftoffenbarungsreligionen sei es jüdischer, sei es christlicher, sei es islamischer Provenienz. Nehmen wir zum Beispiel den dramatischen Fall der suicide bombers: Sich einen Sprengstoffgürtel umzubinden, um andere in den Tod zu reißen, sich selbst aber als Märtyrer ins Paradies zu bomben, das ist nicht eine bloß irgendwie wahnhafte Form von Religiosität, von Distanzunfähigkeit und gescheiterter religiöser Bildung. Dieser Wahn wird vielmehr durch einen spezifischen Typus der Textbindung konstituiert, der voraussetzt, dass die heilige Rede von der heiligen Schrift nicht unterschieden werden könne; dass sie nicht Zeugnis von Offenbarung, sondern Offenbarung selbst sei; und dass daher ihre Bedeutung wie ihre Bedeutsamkeit vermittlungslos direkt gegeben seien.

Der Sinn heiliger Schrift muss dann nicht durch Auslegung und mithin im Streit der Interpretationen ermittelt werden, sondern er liegt in totaler Unmittelbarkeit sozusagen substanzialistisch vor. Allein so kann der Schrift jene radikal unmittelbare, um alle Vorbehalte beschnittene totalitäre Lebensbedeutsamkeit zukommen, die als Rechtfertigung des vorsätzlichen Martyriums benötigt wird. In der fundierenden Wissensordnung besteht aber die solcherart heilige Offenbarungsrede der Schrift nicht aus konventionellen Zeichen. Schrift wird vielmehr als Ort einer unmittelbaren Anwesenheit eines göttlichen Willens begriffen, der direkt auf diejenigen durchgreift, die an ihm vermittlungslos teilzuhaben meinen.

Wo sich nicht die Strittigkeit und Vorbehaltlichkeit der Interpretationen zwischen ‚Gesetz‘ und ‚Leben‘ schiebt, dort entscheidet die ‚Heilige Schrift selbst‘ über Leben und Tod. Insoweit wäre eine zureichende Theorie von Fundamentalismus ohne eine Theorie des jeweils zugrundeliegenden Textualitätskonzeptes nicht zu haben. Dieses aber ignoriert, was in hermeneutischen Kontexten gerade entscheidet: Interpretationsbedürftigkeit. Es ist wortlautfundamentalistisch. Es assoziiert ‚Text‘ gerade nicht mit dem Einschluss komplexer Deutungsalternativen, sondern mit dem Ausschluss von Verhandlungsbedürftigkeit und Streit der Interpretationen.

Dass er sich von jeder Deutungsarbeit befreit weiß, gerade daraus bezieht der Wortlautfundamentalismus eine Deutungsgewissheit, welche mit jeder Hermeneutik sogleich auch das allgemeinere erkenntnistheoretische Prinzip aufgibt, dass wissenschaftliches Wissen allein im Modus reflektierter Selbstinfragestellung beansprucht werden kann.

6. Atrophie von Unterscheidungen II: Trumps Tweets

Bemerkenswert scheint mir nun indes zumal das Folgende zu sein. Jene vermittlungslose, glaubensgewisse a-hermeneutische, gar anti-hermeneutische Vorbehaltslosigkeit, deren Ort Religion sein und die einzuhegen eine der Leistungen von Theologien darstellen kann, sie begegnet in gegenwärtigen Gesellschaften zugleich in weiteren, in veränderten Kontexten. Das ist eine fünfte These: Auch jenseits des religiösen Feldes sind Symptome einer Atrophie solcher Unterscheidungen zu beobachten, die für Theologien wie überhaupt für moderne Wissenschaften konstitutiv sind. Ich zähle hier, nur beispielshalber, die folgenden Symptome auf: In der like-dislike-Wahl der sogenannten sozialen Medien verschwindet Urteilsbildung im Gemenge von Bekenntnissen, bloßen Meinungen oder vagen Sympathien. Oder: Ein ungeheurer Moral-Überschuss in vielen gesellschaftlichen Debatten verdrängt analytische Unterscheidungen; was ich meine, wird sofort deutlich, wenn man sich fragt, ob die Qualität von Werken der Unterhaltung oder Kunst tatsächlich an der Moralität ihrer Urheber hängt. Oder: Populistische Politiken lassen die Vielfalt gesellschaftlicher Differenzen in der manichäischen Entgegensetzung von ‚Volk‘ und ‚Eliten‘ verdampfen (zu welch letzteren dann auch die Wissenschaften zählen). Oder: In den Überdrehungen akademischer political correctness, wie sie im Ruf nach Trigger Warnings und safe spaces zu hören ist, beanspruchen ganze Generationskohorten eine moralische Rückabwicklung von Geschichte sowie eine akademische Ausbildung, die sie von der Irritation durch Anderes, Unvertrautes, also Differentes völlig freihält. So verließen sie das Hochschulsystem mit denselben Präferenzen, mit denen sie schon in es eingetreten waren.

Solche Beispiele für den Verfall von Unterscheidungen, die für pluralistische Gesellschaften, konstitutionelle Demokratien und moderne Wissenschaften konstitutiv sind, ließen sich vermehren. Sie sind anfällig für Missverständnisse und müssten zu deren Vermeidung vermutlich näher erläutert werden. Das ist hier nicht möglich. Ich wähle daher, wie beim Fundamentalismus, wiederum nur einen einzigen Fall von Textpraxis, um zu zeigen, dass auch außerhalb des religiösen Feldes der dort konstatierte Verfall von Unterscheidungen beobachtet werden kann. Ein solcher Fall wären die Tweets von Donald Trump.

Am besten greift man eine beliebige Folge solcher Tweets heraus, zum Beispiel diejenigen vom 12. September 2017. Es sind nur diese vier:

Fascinating to watch people writing books and major articles about me and yet they know nothing about me & have zero access. #FAKE NEWS!
The devastation left by Hurricane Irma was far greater, at least in certain locations, than anyone thought – but amazing people working hard!
Congratulations to Eric & Lara on the birth of their son, Eric “Luke” Trump this morning!
It was a great honour to welcome Prime Minister Najib Abdul Razak of Malaysia and his distinguished delegation to the @White House today!

So belanglos das ist: Bis in die sprachlichen Details hinein ließe sich verfolgen, dass in diesen Tweets Persönliches einer entgrenzten followerschaft weniger mitgeteilt als zur Teilhabe angeboten wird. Hochoffizielles kommt im Gestus persönlichen Vertrautseins daher. Und trotz unbegrenzter Reichweite wird eine Öffentlichkeit als distinkte Sozialsphäre gerade nicht konstituiert. Differenzierungen von Privatem und Öffentlichem, von Amtlichem und Persönlichem sind in einem homogenen Kollektiv ebenso nivelliert wie diejenige von Existenziellem und Beiläufigem.

Und das heißt: Hier wird ein Kommunikationszusammenhang konstituiert, der in semantischer Hinsicht durch a-hermeneutisches Einverständigtsein gekennzeichnet ist und strukturell durch Abstandslosigkeit. Er wirkt als ein homogener Textraum, der all denjenigen, die ihn (strukturell) als follower (semantisch) liken, einen Erlebnismodus des phantasmatischen Darinnenseins ermöglicht. Insofern handelt es sich um eine Textlichkeit, die in dauererregter Exklamatorik ihre eigene Vermitteltheit aus der Wahrnehmung bringt.

Es gibt also in Donald Trumps Tweets gewissermaßen nur eine Wirklichkeit, und so bedeutet es auch der Name des Twitter-accounts: @realDonaldTrump. Diese Wirklichkeit zeigt sich als flächig, ambivalenzlos und homogen. Sie gibt weder Verstehensprobleme auf, noch sieht sie Deutungskonkurrenzen vor. Was zu ihr zu sagen ist, das wird von jenem realDonaldTrump getwittert, der sich selbst auch als the Real News (Twitter, 13.06.2017) bezeichnet. Diese wirkliche Wirklichkeit fällt gewissermaßen in kompakter Fügung mit Trump zusammen, und dieser ist daher zugleich die einzig legitime Quelle allen Wissens und aller Rede über diese Wirklichkeit.

Alles Indirekte hingegen, alles, was durch Zeichen und Medien, durch Journalismus, Experten, konkurrierende Machtinstanzen oder das Washingtoner Establishment mediatisiert und unter kühlen Vorbehalt gestellt wird, ist demnach unwirklich, ist einfach fake. Allein real ist die Atrophie der Unterscheidungen: die metaleptische Verschränkung der Wirklichkeit mit der metonymischen Rede desjenigen über sie, der sich mit ihr ineins setzt. Und allein das sharing dieser Rede als likender follower gewährt reale, vermittlungslose Teilhabe an dieser Realität.

An die Stelle räumlich-zeitlicher, epistemischer und sozial-politischer Differenzen und Kontingenzen tritt damit eine alle Differenzierung, Vermitteltheit und Vorbehaltlichkeit einebnende heiße, augenblickliche Gemeinschaftlichkeit, ein präsentistisches ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘ und ‚Wir in unserer realDonaldTrump-Wirklichkeit‘ – dies aber eben nicht als religiöse Erfahrung, sondern als Instrument eines machtpolitischen Kalküls.

Es ist dies ein Angriff auf alle Nicht-follower. Ihnen fehle nämlich der direkte Zugang zu Trump und damit derjenige zur Wirklichkeit. Was sie zu sagen haben, entbehre daher jeglicher Geltung: yet they know nothing about me & have zero access. #FAKE NEWS!

Die Macht des Sprechers, die Wahrheit der Rede und die Wirklichkeit fallen unmittelbar zusammen. Medium dessen ist die ihre Medialität verleugnende Netzschriftlichkeit dieses Zwitscherns: Only the Fake News Media and Trump enemies want me to stop using Social Media (110 million people). Only way for me to get the truth out! (Twitter, 1.8.2017).

Was hier beobachtet werden kann, ist eine alles Intermediäre ausschaltende, eine populistische Unmittelbarkeit und Vorbehaltslosigkeit. Sie realisiert in bedrückender Ausschließlichkeit, was das Kurznachrichtenmedium strukturell schon nahelegt, nämlich die Reduktion aller Urteilsbildung auf den sozusagen anti-hermeneutischen Dual von like und dislike sowie die manichäische Einteilung der Welt in Freund und Feind, in vorbehaltslose follower und alle anderen. Die follower teilen sich in, wir könnten sagen: alternativlose Fakten von (am 12. September 2017 etwa) Präsidentschaft, Journalismus, Unwetter, Kindsgeburten und Diplomatie. Man teilt ein gemeinsames apriorisches, gewisses Wissen, das vom Twitterer als vermittlungsloser Instanz der wirklichen Wirklichkeit metonymisch zur Geltung gebracht wird und das eben deswegen eine höhere Wahrheit sein will als alles, was sich den umständlichen Vermittlungsprozeduren von öffentlicher Sinnbildung, gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen oder demokratischen Verfahren verdankt.

7. Vertrauenskrise der Wissenschaften

Die Merkmale, von denen hier die Rede ist: den Anti-Pluralismus einer phantasmatisch einheitlichen und abstandslosen Gemeinschaftlichkeit; die Atrophie von Unterscheidungen und den Geltungsvorrang des Metonymischen, des Unvermittelten; schließlich die totalitäre Vorbehaltslosigkeit der Positionsansprüche: Diese Merkmale hat die Trumpsche Twitter-Praxis strukturell gemeinsam einerseits mit den derzeit Besorgnis erregenden Formen nationalpopulistischer Politik in Amerika, Europa und anderweit, sowie anderseits mit den religiösen Wortlautfundamentalismen, die vorhin am Beispiel der suicide bombers anzusprechen waren. Es sind strukturelle Gemeinsamkeiten einer Atrophie von Unterscheidungen in dem, was sich vielleicht am besten metonymische Vorbehaltslosigkeit nennen lässt.

Diese Gemeinsamkeiten metonymischer Vorbehaltslosigkeit ermöglichen die politisch-religiösen Bündnisse, zu denen es immer wieder kommt, z. B. in den USA zwischen populistischen und biblizistisch-evangelikalen Strömungen, in Polen zwischen Nationalpopulismus und Nationalkatholizismus, in Russland zwischen einem neuen Typus caesaristischer Herrschaft und der dortigen Orthodoxie oder in der Türkei in einer in den Islamismus abdriftenden Autokratie. Auch sind es diese Gemeinsamkeiten, die verstehbar machen, dass diese – ihrerseits in durchaus unterschiedlicher Weise als populistisch und fundamentalistisch anzusprechenden – Bündnisse durchwegs ein antagonistisches Verhältnis unterhalten speziell auch zu den Instanzen von Wahrheitsdiskursen in liberalen Demokratien. Angriffe auf die Judikatur und der Kampf gegen ein jeweils etabliertes Mediensystem („Lügenpresse“, fake news) gehören dabei zusammen.

Ebenso reihen sich Denunzierungen von Wissenschaft hier ein, und das leuchtet auch ein. Denn konstitutiv ist für Wissenschaft eben die prinzipielle Bereitschaft, sich irritieren zu lassen. Sie richtet die Beobachtung der Welt nicht auf Wiedererkennungseffekte aus, sondern auf die Durchbrechung etablierter Erwartungen. Die eigenen Annahmen unter den Vorbehalt zu stellen, dass sie durch die Welt und das Wissen der anderen fraglich werden können, ist eine für wissenschaftliche Forschung konstitutive Fähigkeit. Denn diese besteht maßgeblich in der Verwandlung von Vertrautem in Unvertrautes, von Selbstverständlichem in Staunenswertes. Dass Äpfel nach unten fallen, ist erst ein Problem, seitdem Newton dieser Alltagserfahrung eine wissenschaftliche Fragestellung abgewonnen hat. Wissenschaftliches Wissen steht daher stets unter einem sachlichen und zeitlichen Vorbehalt der Revidierbarkeit. Andernfalls wäre die Suche nach neuem Wissen schwerlich motivierbar und erstarrte wissenschaftliche Erkenntnis im Dogmatismus. Was sich als geistiger Habitus der Irritationsbereitschaft ausprägt, ist also ein Prinzip der Wissenschaft schlechthin, nämlich ein Modus kritischer Distanzsetzung von Welt zu sein.

Bei der Negierung dieses Prinzips oder von auf ihm beruhender wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso wie beim Angriff auf ein freiheitliches Rechts- und Mediensystem ist der Rekurs auf Gott bzw. auf religiöse Gewissheiten indes nur eine unter anderen Optionen. Und dies wäre nun meine sechste und letzte These: Religiös begründete Wissenschaftsnegierung ordnet sich ein in diskursive Kontexte, in denen es in übergreifender Weise darum geht, den Pluralismus, die Kontingenz und Komplexität, die Vorbehaltlichkeit der Spätmoderne einzudämmen in Positionen, die strukturell durch metonymische Vorbehaltslosigkeit und Entdifferenzierung gekennzeichnet sind; in gesellschaftliche Veränderungen also auch, die spätestens seit dem vergangenen Jahr als eine Vertrauenskrise der modernen Wissenschaften diskutiert werden.

Diese Vertrauenskrise, das sei nun zum Abschluss noch hinzugefügt, ist in mancher Hinsicht im Grunde wenig verwunderlich angesichts der Dynamiken der Wissenschaftsgesellschaft und der hochtechnologischen Zivilisation. Sie hat auch zu tun mit sehr problematischen und sie gefährdenden Entwicklungen in den modernen Wissenschaften selbst. Dazu gehören (1.) einerseits die Qualitätsprobleme der Forschung, wie sie sich im ganzen Feld von laxen oder überhasteten Forschungsweisen über die sogenannte ‚Replikationskrise‘ in den Experimentalwissenschaften bis hin zu Plagiat und Fälschung abzeichnen. Anderseits pflegen die Wissenschaften (2.) gegenüber der Gesellschaft eine Rhetorik des übertriebenen Versprechens direkten und kurzfristigen Forschungsnutzens für jedermann – vom Sieg über den Krebs bis zur Rettung der Welt überhaupt. Eine solche Rhetorik von Verheißungen, die schwer oder jedenfalls nicht kurzfristig, ja womöglich überhaupt nicht erfüllbar sind, schließt die Glaubwürdigkeitslücken der Wissenschaft nicht, sondern reißt sie auf.

Vor allem aber tragen die Wissenschaften zu der Vertrauenskrise, unter welcher sie leiden, selbst auch (3.) durch das mit bei, was ich Szientokratie nenne. Deren Parole lautet (so etwa auch beim March for Science): „Für alternativlose Fakten, für wissenschaftliche Evidenz, für Wahrheit in der Politik.“5 Dabei indes kollabiert ebenfalls, wie wir es am Fundamentalismus oder an populistischer Twitter-Praxis verfolgten, eine ganze Reihe von Unterscheidungen, welche pluralistische Gesellschaft, konstitutionelle Demokratie und moderne Wissenschaft begründen. Ununterscheidbar werden fallweise eindeutige Fakten, deren strittige Interpretationen und die daraus sich ergebenden ambivalenten Handlungsfolgerungen. Aus dem Sein wird umstandslos auf das Sollen geschlossen. Für Wertkonflikte wird wissenschaftliche Entscheidbarkeit reklamiert. Wissenschaftliche Wahrheitsorientierung, politisches Mehrheitsprinzip und staatsrechtlicher Konstitutionalismus fallen zusammen.

Dieserart aber träten die Wissenschaften nicht allein auf der Ebene methodisch verlässlichen Faktenwissens in Konkurrenz zu religiösen Deutungsangeboten; eine solche Konkurrenz brauchen sie nicht zu fürchten. Sie träten vielmehr auch auf der Ebene normativer Weltdeutung mit ihnen in Wettbewerb. Und so kollabiert im szientokratischen Anspruch – sozusagen von der anderen Seite her, aber nicht weniger deutlich als dort, wo Gott gegen die Wissenschaften in Stellung gebracht wird – ebenfalls die Unterscheidung zwischen einer Epistemik und Textualität des methodisch verlässlichen, differenziellen Wissens auf der einen Seite, das rational begründungsfähig ist und daher unter dem Vorbehalt der Revidierbarkeit steht, und auf der anderen Seite einer Epistemik und Textualität letzter, also nicht weiter ableitbarer, vorbehaltsloser Gewissheiten (sie mag sich auf Gott berufen oder auf eine andere Wahrheitsquelle).

Es ist diese Unterscheidung, welche alle modernen Wissenschaften und mit ihnen die wissenschaftlichen Theologien konstituiert. Allein sofern sie gilt, kann heute die Universität als genuiner Ort auch der Theologien bestimmt werden. Beide, Universitäten wie Theologien, müssen daher diese Unterscheidung nach beiden Seiten hin argumentativ verteidigen – gegen ihren populistischen oder fundamentalistischen wie gegen ihren szientokratischen Kollaps.


Anmerkungen

1 | Meine Bemerkungen behalten die ursprüngliche Vortagsform bei, in der sie am 17.2018 in Tübingen gehalten wurden, und sie nehmen überdies zum wiederholten Male Argumente auf, die ich, teilweise auch in dieser Form, bereits an anderer Stelle vorgestellt habe. Vgl. hierzu insbes.: Peter Strohschneider, Pluralisierungszumutungen und Islamische Theologie. Religiöse Pluralisierung, akademische Theologie und staatliche Universität, in: Walter Homolka/Hans-Gert Pöttering (Hg.), Theologie(n) an der Universität. Akademische Herausforderung im säkularen Umfeld. Berlin/Boston 2013, 1-8. Ders., Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur (GRM-Beiheft 55), Heidelberg 2014. Ders., Theologien und religionsbezogene Wissenschaften an der Universität. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, in: Gerhard Krieger (Hg.), Zur Zukunft der Theologie in Kirche, Universität und Gesellschaft (Quaestiones disputatae 283), Freiburg/Basel/Wien 2017, 109-117. Ders., POTUS als Twitterer. In: Zeitschrift für Ideengeschichte (2018), H.3 (im Erscheinen).
2 | Vgl. Hans-Georg Soeffner, Religion und Kultur des Individuums. Zwölf Thesen, in: Peter A. Berger/Klaus Hock/Thomas Klie (Hg.), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden 2013, 285-304.
3 | Vgl. zuletzt Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017; Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018, 19 ff.
4 | Dirk Baecker, Wozu Kultur? Berlin 2001, 48.
5 | Kathrin Zinkant, Zu Fakten gibt es keine Alternative, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.4.2017.

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