A. Ausgangspunkte
Menschen unserer westlichen Welt übernehmen heute immer mehr die Verantwortung für ihre individuellen Lebensläufe, ohne Rückversicherung oder Entlastung durch Sicherungssysteme wie Traditionen, Kirchen, Vereine, Parteien. Dies bedeutet Freiheit, aber auch Last. Wir stoßen auf die Grenzen von Rationalität, Kapitalismus, ausbeuterischen Systemen und vielem mehr. Wir erleben das Scheitern, auch in den ganz persönlich gewählten Lebensentwürfen. Doch gibt es kein Zurück hinter die Mündigkeit des Einzelnen, in individueller, sozialer und ökologischer Verantwortung. Wache Religionssoziologen haben bereits in den 1970er Jahren aufgedeckt, was heute so augenscheinlich ist: Diese Prozesse der Modernisierung gehen nicht notwendig Hand in Hand mit einer Säkularisierung, sondern die Aufgabe des „häretischen Imperativs“ (Peter L. Berger) und die Erfahrung der Grenzen bringt eine Suche nach einer letzten, unbedingten Rückbindung des Einzelnen: nach Religion, verstanden in einem der ursprünglichen Wortsinne: als Rückbindung an das Absolute, das Göttliche.
Auf verschiedenen spirituellen Wegen, die weithin an den großen Kirchen vorbei gehen, suchen mehr und mehr Menschen nach der Erfahrung eines letzten Gehaltenseins, nach einem sie in einer letzten Tiefe, ohne Bedingungen tragenden Grund.
Diese „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (Christoph Bochinger), zu der Menschen in der Gegenwart sich gefordert sehen und die sie sich zutrauen, ist die praktische spirituelle Antwort auf die Herausforderungen und Möglichkeiten neuzeitlicher Entwicklungen angesichts des Scheiterns beim Bauen auf Menschenmachbares. Christliche Theologie kann sie erkennen als eine christliche Grunderfahrung, blickt sie auf die eigenen mystischen Traditionen, insbesondere auch auf den großen Gewährsmann katholischer Theologie, Thomas von Aquin. Zugleich werden Theologie und Kirche verwiesen auf ungelöste Hausaufgaben: Welche Wertschätzung erhält das Subjekt? Welche Bedeutsamkeit wird der subjektiven Erfahrung für den Glaubensweg des einzelnen und dann auch für das theologische Nachdenken beigemessen? Wie ist das Verhältnis der Institution zu den kontemplativen Wegen des Glaubens?
Zum einen bewahrheitet sich, wie vielfach unterstrichen, das prophetische Diktum Karl Rahners aus dem Jahr 1966.
„… der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu seiner personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiös Institutionelle sein kann.“
Zum anderen bleibt auch der deutlich institutionskritische Impuls dieses Wortes aktuell:
Die Suche nach religiöser bzw. spiritueller Erfahrung geschieht zu Teilen noch im Rahmen des Christentums (mit hohen Tendenzen zum Synkretismus), zu einem wachsenden Teil (über 40 %) aber nicht mehr in kirchlichen Bindungen. Es sind die interreligiösen und transreligiösen Offenheiten, das „Kompositorische“, ernst zu nehmen.
Paul Zulehner antwortete bereits 2006 mit zwei Aufgaben für Pastoral und Theologie: Zum einen brauche es eine „spirituelle Stärkung des inneren kirchlichen Lebens“. Als eine zweite dringende Voraussetzung fordert Zulehner „mehr pastorale Empathie und in deren Rahmen eine kompetente Spiritualitätskritik“. Denn es gelte: „Viele in den christlichen Kirchen stehen dem Phänomen des spirituellen Suchens mit neuer Qualität oftmals sehr ratlos gegenüber.“ In der theologischen Ausbildung vermisst er die Hinführung zu einer kompetenten Spiritualitätskritik. Das Verhältnis von (eigener christlicher) Spiritualität bzw. Spiritualitäten und Theologie respektive Theologien ist (wissenschaftstheoretisch) kaum geklärt.
Der Pariser Fundamentaltheologe Christoph Theobald machte in einer umfangreichen Publikation aus dem Jahr 2007 mit Dringlichkeit deutlich, dass ein Paradigmenwechsel nötig sei. Der Anspruch einer unmittelbaren Beziehung zu Gott, in allen Epochen von der Hierarchie beargwöhnt, stehe auch heute in der Gefahr, in einer Kirche zu verschwinden, die sich vor allem als lehrend und erziehend – mater et magistra – verstehe. Während sie der Referenz auf die absolute Singularität des Bewusstseins und Gewissens (conscience) misstraue, bedrohe sie die Gleichheit aller „spirituels“. Anstatt sich weiterhin auf die Notwendigkeit einer objektiven kirchlichen Formung des Gewissens und der spirituellen Erfahrung der Einzelnen zu berufen, hält er es für notwendig zu unterstreichen, dass die gegenwärtigen spirituellen Wagnisse und Wege von Individuen und Gruppen in einer ganz neuen Art die Frage aufwerfen, wie sie kirchlich und theologisch anerkannt werden. Er formuliert den Wunsch, dass die Festigkeit und Beständigkeit, die aktuell die Referenz auf die „spirituelle Erfahrung“ erhebt, der Umschlagspunkt sein möge, der auch die „kirchliche Dogmatik“ zu dem führen könnte, was sie sein sollte, nämlich „théologie spirituelle.“
Die soziologischen Erhebungen zeigen, dass die Diskrepanz zur Kirchenstruktur bei vielen Menschen zum (zumindest inneren) Auszug aus der hierarchisch-institutionellen Kirche führt(e) und zu einer Beheimatung in neuen Gemeinschaften.
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