archivierte Ausgabe 4/2020 |
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Editorial |
DOI: 10.14623/thq.2020.4.325–326 |
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Reinhold Boschki |
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„Der christliche Gottesgedanke ist aus sich selbst ein praktischer Gedanke“, schreibt der im Jahr 2019 verstorbene Münsteraner Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz.1 Er meint damit, dass alles Nachdenken über Gott die unmittelbaren Interessen und die Interessen derer berührt, ja schärfer formuliert, die Interessen derer „irritiert und verletzt“, die ihn zu denken suchen. Der für den christlichen Glauben zentrale Ruf nach Umkehr, in die Praxis der Nachfolge Jesu, zieht die Rede von Gott, die Theo-logie, in eine Bewegung, die die Trennung zwischen Theorie und Praxis überwindet. Demnach ist alle Theologie – ob in biblischer, historischer, systematischer oder eben praktischer Ausrichtung – „praktische Theologie“.
Auch aus dem Gespräch mit jüdischem Gottdenken wäre zu lernen, dass Gotteserkenntnis einen praktischen Weg darstellt. In der Torah ist die Bedeutung des Tuns angelegt, sie zeichnet einen zu gehenden Weg auf, eine Weisung für praktisch gelebten Glauben an Gott. „Erkenntnis Gottes bedeutet erkennen, wie man mit Gott lebt“, schreibt der jüdische Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel.2 Mehr noch, wer nach der Torah lebt, so Heschel, wird sich der „Göttlichkeit des Tuns“ bewusst. Wenn nun am Ende der kleinen Reihe des 200. Jahrgangs der Theologischen Quartalschrift die Fächer der „praktischen Theologie“ stehen, bilden sie in ihrem Selbstverständnis keineswegs ein Anhängsel, kein Anwendungs- oder Vermittlungsinstrumentarium, sondern führen nochmals mitten hinein ins Herz des Nachdenkens über Gott, ins Herz der Theol-logie als Theo-praxie. Wie alle Beiträge dieses Heftes aufzeigen, ist praktische Theologie eine spezifische, theoriegeleitete Wahrnehmungsform von Welt und Wirklichkeit, die das theologische Nachdenken im Horizont praktischer Fragestellungen voranzubringen sucht.
Wie wurde Praktische Theologie in Zeiten epochaler Umbrüche an der Tübinger Katholisch-Theologischen Fakultät verstanden und welche Konsequenzen sind zu ziehen angesichts heutiger Herausforderungen wie Digitalisierung, Klimakatastrophe, globaler Ungerechtigkeit, des Zusammenlebens der Religionen, der Genderfrage, der Frage nach sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche und nicht zuletzt der Bedrohung durch die Pandemie? Kann Praktische Theologie mit Blick auf die Sterblichkeit als Erfahrungsform der Verwundbarkeit eine neue Ausrichtung bekommen, die die Siegerdiskurse hinter sich lässt? Kann sie durch die Einsicht in die eigenen Schwächen und Verwundbarkeiten ebenso wie die der anderen empathiefähiger und aufmerksamer werden für die Situation der Gegenwart?
Auch für die Religionspädagogik legen sich in kritischer Wahrnehmung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen eine Überprüfung alter Denkmuster und eine Suche nach neuen Denkformen nahe. Können sich Denkformen im Bewusstsein der Unverfügbarkeit, Verwundbarkeit, Beziehung und Wertschätzung als zukunftsfähige Horizonte religiöser Bildung erweisen? Und können religionspädagogische Forschungsprozesse die konstitutiven Unbestimmtheiten aus dem Feld religiöser Bildung – hier am Beispiel des berufsorientierten Religionsunterrichts – in den wissenschaftlichen Diskurs übersetzen, um ihm gerecht zu werden?
Wie in allen Bereichen religiöser Praxis wird insbesondere angesichts der Gottesdienste „im Pandemie-Modus“ deutlich, wie sehr sich Liturgiewissenschaft den aktuell drängenden Herausforderungen stellen muss. Phänomene, die während der Pandemie-Krise aufgetreten sind, dienen exemplarisch als Anstoß, das Verständnis christlicher Liturgie in der Geschichte und deren Theologie grundsätzlich neu zu reflektieren.
Auch die Kirchenrechtswissenschaft kann als praktische Theologie verstanden werden, dann nämlich, wenn grundlegend zwischen Kirchenrecht selbst und der kritischen Reflexion des Kirchenrechts innerhalb der Kirchenrechtswissenschaft, der Kanonistik, unterschieden wird. Denn nur wer mit Hilfe der Kirchenrechtswissenschaft das Kirchenrecht stärker wahr- und ernstnimmt, kann Aufschluss über die gegenwärtige Rechtsgestalt der Kirche bekommen, um sie angesichts gelebter Praxis der Menschen und mithilfe theologischer Optionen weiterzuentwickeln.
Allen Beiträgen dieses Heftes ist das Grundverständnis gemein, dass es „die Praxis“ nicht gibt, sondern eine Vielzahl von höchst verschiedenen Praktiken, die versuchen, den Glauben an Gott ins Leben zu übersetzen. Deshalb stehen die Praktiken des alltäglichen Lebens, das die Menschen in einer sich rasant transformierenden Gesellschaft leben, und die Praktiken des gelebten Glaubens im Fokus der Reflexion. Die Fächer der praktischen Theologie zeigen sich in diesem Heft einmal mehr in ihrer Fähigkeit zur Theoriebildung bei gleichzeitiger Reflexion der lebenspraktischen Dimension. Sie tun dies im Interesse am Menschen – ganz im Sinne von Gaudium et Spes 3: „Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“
Anmerkungen
1 | Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 31980, 47. 2 | Abraham Joshua Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-Vluyn/Berlin 52000, 217; für die Entfaltung dieses Gedankens insgesamt s. 217–226.
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