archivierte Ausgabe 2/2022 |
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Editorial |
DOI: 10.14623/thq.2022.2.158–160 |
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Sebastian Pittl / Michael Schüßler |
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Nach Jahrzehnten des relativen Friedens in Europa ist mit dem russischen Überfall auf die Ukraine der Krieg zurück auf unserem Kontinent. Dieses Editorial entsteht in den Tagen, da die mutmaßlichen Kriegsverbrechen Russlands an Zivilist:innen in Butscha nahe Kiew bekannt geworden sind. Die Bilder der Verletzten, der Toten und der zerbombten Städte sind ebenso wenig zu ertragen wie die offensichtliche Ohnmacht der Europäischen Union zwischen Solidarität und Sanktionen, Waffenlieferungen und der Hilfe für Geflüchtete sowie der drängenden Sorge vor einer Ausweitung des Krieges. Wenige Tage vor dem neoimperialen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat der UN-Botschafter Kenias, Martin Kimani, eine kurze, aber viel beachtete Rede gehalten. Wie bei fast jedem Land Afrikas wurden auch die Grenzen Kenias durch die kolonialen Imperien Europas gezogen, ohne dass dabei Rücksicht auf die konkreten sozialen Verhältnisse vor Ort genommen wurde: „Wir glauben, dass alle Staaten, die aus zusammengebrochenen und zurückgewichenen Imperien entstehen, viele Völker in sich tragen, die sich nach Integration mit Völkern in Nachbarstaaten sehnen. […] Doch Kenia lehnt es ab, eine solche Sehnsucht mit Gewalt zu verfolgen. Wir müssen unsere Heilung von der Asche toter Imperien in einer Weise abschließen, die uns nicht in neue Formen von Herrschaft und Unterdrückung zurückwirft.“ Kenia wendet sich deshalb gegen den russischen Angriffskrieg und ruft zu einer Rückkehr zum Multilateralismus auf. Die neoimperialen Bestrebungen Russlands sind wohl ein aktuell besonders brutaler Aspekt einer postkolonialen, multipolaren Welt, die keineswegs weniger gefährlich und nicht wirklich friedlicher geworden ist. Postkolonial meint eben Fortdauer von „Kolonialität“ unter den Bedingungen der Gegenwart.
Während vor allem im englischsprachigen Bereich post- und dekoloniale Theorien und Studien auch in der Theologie nicht mehr wegzudenken sind, steht deren Rezeption im deutschsprachigen Bereich trotz einiger wichtiger Arbeiten der letzten Jahre immer noch ziemlich am Anfang. Europa und vor allem Deutschland, die sich selbst lange als Zentren christlich-theologischen Denkens imaginiert haben, stehen heute vor der Herausforderung, sich in einer globalen Gegenwart neu zu verorten.
Dieses Heft beleuchtet drei exemplarische Konfliktfelder, die mit den genannten Rekontextualisierungen zu tun haben – sowohl von post- und dekolonialen Theorien in deutschsprachigen Kontexten als auch von deutscher Theologie und Kirche in zunehmend globalisierten, postkolonialen Kontexten. Das interdisziplinäre Format dieses Heftes geht auf einen Workshop zurück, bei dem unter dem Titel „Decolonizing Global Encounters. Religion – Politics – Culture“ im Frühjahr 2021 an der Universität Tübingen Vertreter:innen unterschiedlicher Disziplinen über die Relevanz post- und dekolonialer Studien für ihre jeweiligen Fächer sowie die Konsequenzen, die sich daraus für das Verständnis der globalisierten Gegenwart ergeben, nachgedacht haben. Die hier abgebildeten Themenfelder haben sich in der Vorbereitung und Durchführung des Workshops als besonders kontrovers erwiesen. Das haben wir zum Anlass genommen, sie hier in ihrer theologischen Relevanz nochmals intensiver in den Blick zu nehmen. Das interdisziplinäre Format haben wir beibehalten und zu den drei ausgewählten Themenfeldern jeweils Autor:innen aus unterschiedlichen Fächern eingeladen. Manche von ihnen haben am genannten Workshop teilgenommen. Andere haben wir für dieses Heft neu angefragt. Die Interdisziplinarität findet auch darin einen Grund, dass sich die komplexen Verflechtungen von Kolonialismus, Postkolonialität und Religion zunehmend nur mehr auf interdisziplinäre Weise in den Blick bekommen lassen. Darin freilich bleiben die Theologien eine wichtige Stimme.
In einer Einführung erläutern wir als Herausgeber zu Beginn die Relevanz postkolonialen Denkens für die Theologie und geben vorbereitende Einblicke in die drei im Heft aufgegriffenen Problemfelder.
Das erste Konfliktfeld diskutiert als eine der „heißesten“ Kontroversen im Feld der Erinnerungskultur das Verhältnis von Shoah und Kolonialismus: Führt die postkoloniale Erinnerung an europäische Kolonialverbrechen zur antisemitischen Relativierung der Shoah und damit notwendig zu einer Opferkonkurrenz? Der jüdische Erziehungswissenschaftler und engagierte Intellektuelle Micha Brumlik wie auch die christliche Theologin Marion Grau setzen an den aktuellen Auseinandersetzungen etwa um Achille Mbembe an und greifen dabei das weiterführende Konzept „multidirektionaler Erinnerung“ von Michael Rothberg auf.
Das zweite Konfliktfeld sondiert Herausforderungen des postkolonialen Denkens für den christlich-islamischen Dialog. Sigrid Rettenbacher beschreibt als katholische systematische Theologin dessen diskurskritisches Potenzial, nämlich auf das im interreligiösen Dialog nicht Gesagte aufmerksam zu werden, auf subtile Machtprozesse, und darin für ein neues Hören auf die Zwischenräume sensibilisiert zu werden. Für Ruggero Vimercati Sanseverino vom Tübinger Zentrum für Islamische Theologie eröffnet die postkoloniale Perspektive einen neuen Blick auf sein Gebiet der Hadith-Forschung, ein Blick, der dann nicht mehr allein von säkularer Islamwissenschaft normiert wäre. Dieser Perspektive ist Entscheidendes zu verdanken, aber zugleich wird heute etwa bei einem rein historisch ansetzenden Begriff von „Authentizität“ und „Tradition“ auch deren „Kolonialität“ sichtbar, wenn etwa andere, genuin theologische Perspektiven zu schnell als unwissenschaftlich abqualifiziert werden.
Ein drittes Konfliktfeld besteht auf dem Gebiet von postkolonialen und feministischen Studien. Die Koblenzer Politikwissenschaftlerin Ina Kerner hat die Junius-Einführung „Postkoloniale Theorien“ verfasst und versteht sich als feministische Denkerin. Durch die Auseinandersetzung mit beiden Problemkreisen ist sie in den letzten Jahren für die (neue) Relevanz des Religiösen in internationalen Frauen- und Genderdiskursen sensibilisiert worden. Gerade auch von nicht westlichen Erfahrungen her plädiert sie für
eine religionskritische Wende im postsäkularen Feminismus, Religion also nicht aus-, sondern in Komplizenschaft mit feministischen (Gender-)Theologien auf kritische Weise einzublenden. Die bekannte feministische, postkoloniale Bibelwissenschaftlerin Musa Dube untersucht zentrale Stellen im johanneischen Prozess Jesu mit Blick auf Widerstand oder Kollaboration mit dem (Römischen) Imperium: A postcolonial Trickster Reading of Jesus’ Arrest and Trial. Dass (neo-)imperiale Vereinnahmungen des vierten Evangeliums auch in Europa nicht der Vergangenheit angehören, zeigt sich ebenfalls deutlich im Ukrainekonflikt. Am Jahrestag der Annexion der Krim hat Wladimir Putin mit Blick auf die gefallenen russischen Soldaten Joh 15,13 zitiert: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“.
Im kritischen Forum greift Ottmar Fuchs das Thema des Heftes aus seiner langen Erfahrung mit dem Verhältnis christlicher Theologie in Deutschland zu Israel, Palästina und dem Nahostkonflikt heraus auf. Sein Text für einen postkolonial basierten Kampf gegen den Antisemitismus ist ein starkes Plädoyer dafür, dass sich theologische Stimmen aus der Hitze zeitgenössischer Debatten gerade um Postkolonialität und Antisemitismus nicht heraushalten, deren Komplexität aber auch nicht unterbieten dürfen.
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