archivierte Ausgabe 2/2020 |
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Editorial |
DOI: 10.14623/thq.2020.2.85–87 |
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Hans Reinhard Seeliger |
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In den Jahren 1969/70, als der Autor dieser Zeilen gerade sein Studium begonnen hatte, erschien – reichlich früh – auf Deutsch wie Französisch eine Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Herbert Vorgrimler und Robert Vander Gucht.1 Das vierbändige Werk blättert ein reiches Spektrum von Perspektiven, Strömungen, Motiven in der christlichen und nicht christlichen Welt (so der Untertitel) auf. Es skizziert die Entwicklung der katholischen, evangelischen, anglikanischen und orthodoxen Theologie und porträtiert den Stand der Wissenschaft in den theologischen Einzeldisziplinen. Als deren letzter widmet es sich dabei der „historischen Theologie“, unter die die Kirchen-, Theologie- und Dogmengeschichte sowie die Patrologie subsumiert werden. Der kirchengeschichtliche Beitrag stammt von Georg Denzler (Bamberg), der nach einer Einleitung zur Frage der Kirchengeschichte als „theologischer Wissenschaft“ in enzyklopädischer Weise Hilfsmittel, Lehr- und Handbücher, Quelleneditionen, Fachzeitschriften und Gesamtdarstellungen auflistet, wichtige Forschungsgebiete benennt und „typische Kirchenhistoriker“ vorstellt: Louis Duchesne (1843–1922), Ludwig von Pastor (1854–1928), Albert Ehrhard (1862–1940), Hans Lietzmann (1875–1942) und Sebastian Merkle (1862–1945) – allesamt Figuren der ersten Hälfte des (frühen) 20. Jahrhunderts.
Seit damals haben zwei weitere Generationen von Kirchenhistorikern und Kirchenhistorikerinnen geforscht und gelehrt.2 Allein das ist bereits Grund genug, erneut nach der Bilanz zu fragen, aber auch nach den Perspektiven des Faches Kirchengeschichte. Dies umso mehr, als im Vergleich mit der Situation von vor fünfzig Jahren inzwischen die Frage virulent ist, ob das Fach überhaupt noch über ein spezifisch konfessionelles Profil verfügt oder verfügen sollte.
Sich dem Thema „Bilanz und Perspektiven“ des Faches zu stellen und dabei zugleich die Frage seiner konfessionellen Prägung in den Blick zu nehmen konnten für dieses Heft des 200. Jubiläumsjahrgangs der Theologischen Quartalschrift vier renommierte Kolleg*innen der „mittleren Generation“ gewonnen werden, die alle über reiche Erfahrung in Forschung, Lehre, Wissenschaftsorganisation und bei der Heranbildung von Nachwuchs verfügen: für die Ältere Kirchengeschichte Heike Grieser (kath.) und Peter Gemeinhardt (ev.) aus Mainz bzw. Göttingen sowie für die Mittlere und Neuere Kirchengeschichte Andreas Holzem (kath.) und Volker Leppin (ev.), beide in Tübingen tätig.
An alle erging die Bitte, das Manuskript des jeweiligen Fachpartners zu lesen und zu kommentieren. Diese Aufgabe haben die Autor*innen unterschiedlich gelöst. Andreas Holzem und Volker Leppin verfassten gleich einen gemeinsamen Aufsatz, der prononciert mit der These beginnt, dass die Zeit konfessioneller Muster in der Kirchengeschichtsschreibung abgelaufen sei. Heike Grieser und Peter Gemeinhardt haben einen gemeinsamen Anhang zu ihren jeweiligen Beiträgen verfasst. Beide gehen in ihrem Aufsatz eher enzyklopädisch so vor wie seinerzeit Georg Denzler, führen wichtige Publikationen auf, entfalten das breite Spektrum heutiger Forschung, benennen aber auch Defizite. Dabei weist Heike Grieser auch auf die mangelhafte Nachwuchssituation im Fach Alte Kirchengeschichte insbesondere an Katholisch-Theologischen Fakultäten hin. Andreas Holzem und Volker Leppin betonen bedauernd, dass es inzwischen keine katholischen Reformationshistoriker mehr gibt. Dass es im katholischen Bereich überhaupt an Mediävisten mangelt, wäre hinzuzufügen. Das alles ist durchaus besorgniserregend.
Der gemeinsame Beitrag der Tübinger Kollegen unterscheidet sich von den beiden anderen zur Alten Kirchengeschichte / Patristik insofern, als er mehr auf die Ausleuchtung von Forschungsfeldern ausgerichtet ist und Themenbereiche benennt, die in der letzten Zeit innovativ diskutiert wurden und weiteres Entwicklungspotenzial aufweisen. Beispielhaft sind dafür aus Sicht der Verfasser die Fragen nach den Epochenkonturen, die Weiterentwicklung des Konfessionalisierungsparadigmas, die Aufklärungsforschung (ein Thema, das m. E. auch von katholischer Seite noch energischer angegangen werden müsste) und neue Akzente in der kirchlichen Zeitgeschichte (Katholizismusforschung und Kirchengeschichte der DDR).
Gemeinsam wird in allen Beiträgen konstatiert, dass konfessionelle Aspekte des Fachs in der Lehre eine größere Rolle spielen als in der Forschung, wo sie sich noch in der Wahl konfessionell-traditioneller Themen zeigen, einem jedoch in Aufweichung befindlichen Phänomen, wenn man berücksichtigt, dass Themen aus den Bereichen wie „Hagiographie“, „Liturgie“ und „Institutionen“ in der evangelischen Forschung zur älteren Kirchengeschichte inzwischen großes Interesse finden, derweil dieses augenscheinlich erlahmt, was die klassischen dogmengeschichtlichen Studien betrifft. Peter Gemeinhardt nennt die Beispiele dafür.
Dass konfessionelle Gesichtspunkte in der Lehre präsenter sind, liegt aber nicht allein an der institutionellem Verankerung kirchengeschichtlicher Lehre in den konfessionell ausgerichteten Studiengängen der unterschiedlichen Fakultäten. Die hier obwaltenden Bedingungen haben durchaus nicht nur formalen Charakter, sondern hinter ihnen verbirgt sich die Frage nach der nicht zuletzt auch historischen Identität der Kirchen, für die an den Hochschulen Personal ausgebildet wird (selbst wenn dies in zunehmender Weise nicht mehr exklusiv geschieht). Insofern ist das alte Thema der Kirchengeschichte „als Theologie“ nach wie vor präsent, wenn auch mehr im Hintergrund.
Die logische Struktur historischen Erklärens, wie man sie mit Hilfe der analytischen Philosophie erläutern kann,3 bedingt, dass historiografisches Erklären und Erzählen immer derjenigen bedarf, die solches plausibel finden. Andernfalls wird es als unsinnig abgetan. Es braucht also jede Art von Geschichtswissenschaft – und darin unterscheidet sich die Kirchengeschichte nicht von den andern historischen Wissenschaften – ihre Adressaten; das sind für die Kirchengeschichte die Theologiestudent*innen, kirchliches, aber vermehrt auch anderes Publikum und inzwischen in weitaus selbstverständlicherer Weise als noch vor einem halben Jahrhundert die Kirchenhistoriker* innen der jeweils anderen Konfession wie die interdisziplinäre Kolleg*innenschaft, mit der das Fach im Austausch steht.
Anmerkungen
1 | Freiburg 1969–1970; französische Ausgabe: Tournai/Paris 1969–1970; italienische Übersetzung: Rom 1972; spanische Übersetzung: Madrid 1973. 2 | Vgl. für die katholische Seite: Jörg Ernesti/Gregor Wurst (Hg.), Kirchengeschichte im Portrait. Katholische Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2016; der Schwerpunkt der Auswahl in diesem Buch liegt auf Persönlichkeiten der Mitte des 20. Jahrhunderts.
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