Herzlich willkommen bei ThQ – die theologische Quartalschrift aus Tübingen
Unsere aktuelle Doppelausgabe 3-4/2024
zum Themenheft »Immanuel Kant und die Religion: Theologische Erkundungen anlässlich seines 300. Geburtstages« mit folgenden ausgewählten Beiträgen:
Editorial
Franz-Josef Bormann / Johannes Brachtendorf
Wenn in Deutschland von „Erinnerungskultur“ die Rede ist, denken viele Zeitgenossen zuerst an die historischen Hypotheken, die gerade auf der jüngeren deutschen Geschichte lasten und denen stets aufs Neue gerecht zu werden, Teil unserer besonderen Verantwortung ist. Es gibt aber auch eine positive Dimension des Erinnerns, die darin besteht, genau jene Errungenschaften und Leistungen aus der Vergangenheit im kollektiven Bewusstsein lebendig zu halten, denen für die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen große Bedeutung zukommt. Letzteres trifft in besonderem Maße auf das Denken Immanuel Kants zu, dessen 300. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Der Umstand, dass sich der große Aufklärer und Weltbürger aus Königsberg zeit seines Lebens intensiv mit Fragen der Religion auseinandergesetzt hat, ist auch heute noch Grund genug, seinen einschlägigen Überlegungen aus theologischer Perspektive nachzugehen und kritisch nach den Stärken und Schwächen seines Ansatzes zu fragen. Dies soll hier in drei thematischen Blöcken geschehen.
Der Kategorische Imperativ und seine Formulierungen
1. Einleitung
Auch 300 Jahre nach seinem Geburtstag ist Kants Ethik noch immer von zentraler Bedeutung. So finden wir seine moralischen Begriffe nicht nur in akademischen Disziplinen als z. B. der philosophischen Ethik, der Bio- und Medizinethik, dem Recht oder den Politikwissenschaften, sondern auch in der Alltagsmoral. Zudem finden wir nicht nur eine von Kants Ideen, sondern gleich mehrere. Die Bedeutung von Kant ist so groß, dass z. B. Derek Parfit sagt, Kant habe uns in weniger als 40 Seiten der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [GMS] mehr neue Ideen für unsere Zeit gegeben als mehrere Jahrhunderte zuvor. Mit seiner Aussage bezieht sich Parfit auf Kants Kategorischen Imperativ und seine verschiedenen Formulierungen.
Enthusiasmus, Endzweck der Schöpfung, praktischer Glaube
Das Zusammenbestehen von Gefühl und Verstand in der Ethikotheologie der „Kritik der Urteilskraft“
Im Jahr 2024 werden zwei besondere Gedenktage zugleich gefeiert: der 300. Geburtstag Immanuel Kants und der 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs. Gemeinhin möchte man annehmen, dass einer der prominentesten Philosophen der Aufklärung und Begründer der Transzendentalphilosophie und ein Künstler, der als herausragender Vertreter der Romantik gilt, nur wenig mehr gemeinsam haben als die Feier ihrer (halb-)runden Geburtstage. Doch die Behauptung eines strikten, unauflöslichen Gegensatzes zwischen beiden erweist sich als zu schnell, vor allem wenn man berücksichtigt, dass Friedrichs Kunstwerke als Beispiele für eine Ästhetik des Erhabenen herangezogen werden, im Zusammenspiel mit einem deutlich melancholischen Moment. Kant ist einer der prononciertesten Theoretiker einer Ästhetik des Erhabenen gewesen, vorgelegt hat er seine Überlegungen dazu vor allem in seiner „Analytik des Erhabenen“ in der „Kritik der Urteilskraft“. Darin besteht eine erste Gemeinsamkeit zwischen Kant und Friedrich, eine zweite in beider Fokussierung auf ein Glaubensverständnis, das jeglichem Anspruch auf absolutes Wissen in theoretischer Hinsicht entsagt, eine dritte in der Ehrfurcht vor der Naturteleologie und vor der Unendlichkeit des Universums.
Eine kritische Diskussion vor dem Hintergrund klassischer Alternativen
1. Das praktische Grundgesetz als Basis der Vernunftreligion
An der Spitze der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten – Kants Metaethik und Ethik, wenn man so will – steht das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, der kategorische Imperativ, als Freiheitsgesetz. Dass die reine Vernunft den Willen bestimmen kann und dass die Ethik in die Metaphysik fällt, war nicht ohne weiteres zu erwarten und ist Grundlage dessen, dass eine veritable Philosophie der Religion im Unterschied zum philosophisch informierten Räsonieren über Religion und zur empirischen Religionswissenschaft überhaupt möglich ist. Die Religionsphilosophie taxiert die Religion nicht von außen, sondern entwickelt ihre Inhalte vom gedanklichen Ursprung der Religion aus, soweit die Inhalte sich „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ begründen lassen. Dass dies möglich ist, musste bzw. muss natürlich gezeigt werden. Kant hat die Sache in Angriff genommen und weit vorangebracht, aber einige Desiderate gelassen, an denen weiterzuarbeiten die Mühe lohnt.