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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/thq.2016.4.355-370
Michael Sievernich SJ
Von der Kunst persönlicher und pastoraler „Unterscheidung“ im Kontext der Familie
Zusammenfassung
Der Beitrag setzt ein mit einer Kritik an dem sehr selektiven Interesse der Öffentlichkeit und zeigt sodann auf, dass Papst Franziskus in Amoris laetitia eine wichtige individualethische und pastorale Kategorie ins Spiel gebracht hat: die der persönlichen und pastoralen „Unterscheidung“. In der Neuzeit ist sicher Ignatius von Loyola zur prägenden Gestalt auch über seine Lebenszeit hinaus geworden. Er lernte die Unterscheidung der Geister durch geistliche Erfahrung kennen, systematisierte sie in den Geistlichen Übungen und machte sie damit für die gesamte Kirche zugänglich. Daher ist hier das ignatianische Verständnis und seine nachhaltige Wirkung bis in die Gegenwart zu entfalten. Das Thema einer persönlichen und pastoralen Unterscheidung im Feld von Ehe und Familie wird denn auch in dem päpstlichen Schreiben vertieft. Hier dürfte Papst Franziskus einen bleibenden Impuls für die Weltkirche gegeben haben.

Abstract

The article begins with a criticism of the extremely selective interest of the general public and then shows that Pope Francis brings an important individual-ethical and pastoral category into play in Amoris laetitia, that of personal and pastoral „discernment“. In the modern era Ignatius Loyola has surely become a defining figure even beyond the span of his lifetime. He became acquainted with the discernment of spirits through spiritual experience, systematized it in the Spiritual Exercises, and thereby made it available to the entire church. For this reason the Ignatian understanding and its lasting impact up to the present day are to be developed here. The theme of a personal and pastoral discernment in the areas of marriage and family is then deepened in the papal exhortation. Pope Francis may well have provided an abiding stimulus here for the universal church.

Schlüsselwörter – Keywords

Amoris laetitia; Unterscheidung der Geister; Unterscheidung – persönlich und pastoral Amoris laetitia; discernment of spirits; discernment – personal and pastoral

Der Philosoph Odo Marquard bemerkte einmal spitz: „Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu – wo man doch den Text hat – braucht man sie sonst? Aber braucht man sie überhaupt? Was ist das eigentlich, was man da braucht, wenn man das Interpretieren, die Hermeneutik braucht?“1 Es handelt sich zweifelsohne um eine Grundsatzfrage, die nicht allein Philosophen umtreibt, sondern auch andere, die etwa mit literarischen oder theologischen Texten zu tun haben, wollen sie diese verstehen und interpretieren. Gerade die Theologie muss aus ihren zahlreichen Texten deren praktischen Sinn herauskriegen, handele es sich um kanonische Bibeltexte verschiedener Genera, um kanonistische Gesetzestexte oder um lehramtliche Texte zur Morallehre. Es bedarf also eines enormen interpretatorischen Aufwands, um Ehe und Familie und entsprechende normative Texte zu verstehen.

Was aber braucht man, um aus solchen präskriptiven Texten herauszukriegen, was nicht drinsteht? Das liegt eigentlich auf der Hand, auch wenn es nicht selbstverständlich scheint: Man braucht den Kontext. In seinem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia (2016)2 verweist Papst Franziskus auf die fehlenden Kontexte, um zu verstehen zu geben, welchen Sinn die normativen Texte für die Praxis haben. Um welche Kontexte geht es dabei? Zunächst um den weiten Kontext der heutigen Lebenswelt, um die empirisch erhebbaren Kontexte von Ehe und Familie, um die interkulturelle Vielfalt familiären Lebens, um die Wertvorstellungen der Gegenwartskultur. Dann geht es aber auch um die spezifischen „Situationen“, in denen sich einzelne Personen, Ehepaare und Familien befinden können. Dabei handelt es sich keineswegs nur um die in Deutschland und den Medien oft besprochenen Situationen Geschiedener und zivil Wiederverheirateter sowie ihren Zugang zu den Sakramenten. Vielmehr bietet das Schreiben ein außerordentlich breites Spektrum sehr unterschiedlicher „Situationen“ in verschiedenen Kulturen. All das steht nicht explizit in den einschlägigen normativen Texten. Sie bewegen sich auf der prinzipiellen Ebene, weshalb es zu deren Verständnis der Kontexte der Situationen bedarf, in denen sich unverwechselbare Individuen in interpersonalen Beziehungen bewegen und entfalten, aber auch scheitern können.

Daraus folgt nun keineswegs eine Relativierung oder Depotenzierung normativer Vorgaben, wohl aber deren hermeneutische Verbindung mit den jeweiligen situativen Kontexten. Mit dem Fundamentaltheologen Hans Waldenfels kann man daher fortfahren: „Wer theologisch ‚Kontext‘ sagt, muss daher auch theologisch zunächst ‚Text‘ sagen und diesen ‚Text‘ benennen. Unsere Geschichte des Christentums aber sagt daher: Der ‚Text‘, von dem Juden und Christen sich leiten lassen, ist uns vorgegeben in der Geschichte von einem Gott, der selbst in den Geschichten der Menschen spricht; als Christen müssen wir hinzufügen: Geschichten von einem Gott, der Mensch geworden ist.“3 Welches Weberschiffchen aber verknüpft die objektiven normative Texte mit ihrem allgemeinen Wahrheitsanspruch und die situativen Kontexte, in die wahrheitsfähige Subjekte verstrickt sind?

1. Die Eigenart von Amoris laetitia

Das Apostolische Schreiben hat eine Vorgeschichte sondergleichen, denn es basiert gleich auf zwei Bischofssynoden zum Thema Ehe und Familie, der III. Außerordentlichen Versammlung der Bischofssynode von 20144 und der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode von 2015,5 an deren Interventionen in der Synodenaula Papst Franziskus fast komplett hörend teilnahm, um wahrzunehmen, was die Synode zu sagen hatte. Dabei mahnte er die „Synodenväter“ zu Freimut (Parrhesia) und zu offenem Gespräch. Beide Synoden verabschiedeten jeweils einen mit Zweidrittelmehrheit angenommenen Schlusstext (Relatio Synodi und Relatio finalis), die zusammen dem Papst zur Beratung dienten. Überdies wurde eine weltweite Umfrage zu diesem Themenkomplex durchgeführt. Selten dürfte ein postsynodales Schreiben aus so vielen Quellentexten geschöpft haben wie in diesem Fall. Wie bei allen Synoden waltete hier das Prinzip, dass die Synode cum Petro et sub Petro tagt.

In fast 400 Anmerkungen nennt das postsynodale Schreiben Amoris laetitia diese Quellen beim Namen; die meisten Zitate (etwa 250) entstammen der Heiligen Schrift und den beiden Bischofssynoden (etwa 125); dazu kommen lehramtliche Dokumente des Zweiten Vaticanums und der nachkonziliaren Päpste, sowie Dokumente von Bischofskonferenzen aller Erdteile und Texte einzelner Autoren, vom meistzitierten Thomas von Aquin und von Augustinus bis Ignatius von Loyola und Therese von Lisieux, Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King. Damit nimmt Papst Franziskus zum einen den synodalen Wunsch nach einer deutlich biblischeren und weniger doktrinellen Sprache auf, die an der Auslegung des Psalms 128 und des paulinischen Hohenlieds der Liebe (1 Kor 13, 1–13) zu erkennen ist. Die zahlreichen synodalen Quellen zeigen, wie hoch der Papst den Weg der Synode einschätzt, deren Bedeutung in einer globalen Welt weiter wachsen wird. Außer der Weiterentwicklung der Synodalität geht es in dem Schreiben von Anfang an nicht um die Ausweitung der Kampfzone kirchlicher Lehre, weil „nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“, wohl aber um eine Ausweitung der interkulturellen Situationen, damit „besser inkulturierte Lösungen gesucht werden, welche die örtlichen Traditionen und Herausforderungen berücksichtigen“ (AL 3). Es stehen also die Kontexte des gemeinsamen Lebens und der individuellen Situationen im Vordergrund, und es geht darum, „zur pastoralen Unterscheidung einzuladen“ (AL 6), um einen hermeneutischen Prozess zwischen Lehre und Leben einzuleiten, bei dem die „Unterscheidung“ eine Brücke schlägt.

Das postsynodale Dokument enthält insgesamt neun Kapitel, deren Duktus es nahelegt, jeweils drei Kapitel als Einheit wahrzunehmen. Die erste Einheit (Kap. 1–3) bringt in biblischer Sprache anhand von Ps 128 zunächst die positiven Seiten menschlicher Entfaltung in der Paarbildung und Fruchtbarkeit zur Sprache, die freilich auch mit Gewalt und Leiden negative Seiten kennen sowie die Mühen der Arbeit, umfangen jedoch von Barmherzigkeit und Zärtlichkeit in der Familie. Auf diesem biblischen Hintergrund nimmt das Schreiben die heutige Situation der Familie, insbesondere die Herausforderungen durch die Gegenwartskultur und heutige Diskurse in den Blick. Schließlich folgt eine positive Darstellung der kirchlichen Lehre zu Ehe und Familie mit den wichtigsten Aspekten der Einheit, Unauflöslichkeit, Sakramentalität, Treue, Offenheit für das Leben, die den Konzilstexten (Gaudium et spes 47–52) und den jüngeren Schreiben der Päpste Paul VI. (Humanae vitae), Johannes Paul II. (Familiaris consortio) und Benedikt XVI. (Deus Caritas est) entnommen sind.

Die nächste Einheit (Kap. 4–6) befasst sich mit der Liebe in der Ehe, die zunächst anhand des neutestamentlichen Hohenlieds der Liebe lebenspraktisch durchbuchstabiert wird, nicht ohne das Spektrum der menschlichen Liebe bis hin zur erotischen Liebe und zu den Leidenschaften wahrzunehmen. Papst Franziskus empfiehlt den Eheleuten vor allem das vierte und fünfte Kapitel zur Lektüre, da sie praktisch und spirituell die eheliche Liebe und ihre Fruchtbarkeit in der Vater- und Mutterschaft beschreiben. Das sechste Kapitel dieser Einheit ist mehr für Seelsorger gedacht und beschreibt die pastoralen Hilfestellungen wie Ehevorbereitung und Ehebegleitung, besonders in Zeiten von Krise, Trennung, Scheidung oder Wiederheirat, in denen komplexe Situationen auftreten. Dabei werden besonders die Folgen für Kinder ins Blickfeld genommen (AL 245). Wie auf den Synoden kommt auch die Problematik kultur- und religionsverschiedener Ehen zur Sprache.

Die letzte Einheit (Kap. 7–9) ist auf die Praxis zugeschnitten. Das heißt, die pädagogische Praxis (Erziehung), die pastorale Praxis (Begleiten) und die spirituelle Praxis (Gebet). Außer den beiden Praxisfeldern der ethischen und der sexuellen Erziehung sowie der ehelichen und familiären Spiritualität geht es im umstrittenen achten Kapitel6 vor allem um die pastorale Trias von begleiten, unterscheiden und eingliedern von Personen, die angesichts der menschlichen Zerbrechlichkeit in schwierigen Situationen die verletzte oder verlorene Liebe erleiden und der „Logik der pastoralen Barmherzigkeit“ bedürfen (AL 307). Warum hier die „Unterscheidung“ eine führende Rolle spielt, wird im Folgenden zu erörtern sein; doch zuvor ist auf eine weitere, kaum bemerkte Eigenart von AL hinzuweisen.

Franziskus nimmt mit seinem Schreiben jene Bewegung wieder auf, die von Johannes XXIII. inauguriert und vom Zweiten Vaticanum durchgeführt wurde, in der Zwischenzeit aber halb vergessen oder doktrinal überlagert worden war. Es handelt sich um die Forderungen nach einem „Pastoralkonzil“ und nach einem „pastoralen Lehramt“ (un magistero a carattere prevalente pastorale), die der Konzilspapst in der Eröffnungsrede Gaudet mater ecclesia am 11. Oktober 19627 erhob und die im neuen Stil des Konzils ihren Niederschlag fanden. Wie John O’Malley überzeugend nachgewiesen hat, vollzog das Konzil einen rhetorischen Paradigmenwechsel von der mehr forensischen Gerichtsrede, die eher maßregelt und verurteilt (anathema sit) hin zu einer epideiktischen oder panegyrischen Redegattung, die zum Positiven einlädt, ermutigen und überzeugt;8 konkret betont er den Wechsel von den „Waffen der Strenge“ zur „Medizin der Barmherzigkeit“. Auch die konziliare Rede von Ehe und Familie (GS 47–52) hat von rechtlicher Sprache auf personale Sprache umgestellt. Stil und Sprache von Amoris laetitia knüpfen an diesen konziliaren Stil und Wechsel an; es stellt auf das „Loblied“ der Liebe und der Barmherzigkeit um, in deren Licht die Lehre zu interpretieren ist.

2. Die Rolle der „Unterscheidung der Geister“


Wer die (deutschsprachige) Presse während der Bischofssynode im Oktober 2015 verfolgt hat, konnte zwei Phänomene feststellen: Zum einen wurde das breite Spektrum der Synodenthemen, das ja weltkirchliche Fragestellungen und menschheitliche Megathemen behandelte, kaum in den Blick genommen, zumal dann nicht, wenn interkulturelle Themen diskutiert wurden. Im Vordergrund der Berichterstattung standen Kirchenpolitik, Krach unter Kardinälen, vatikanische Skandale und das Lagerdenken von Bewahrern und Reformern. Inhaltlich hatte man sich vor allem auf eine einzige Streitfrage fokussiert, nämlich den Kommunionzugang von wiederverheiratet Geschiedenen.9 Freilich griff die Presse damit ein Thema auf, das die innerkatholische Öffentlichkeit durchaus umtrieb, aber doch so, dass weltkirchliche und interkulturelle Perspektiven weitgehend überspielt wurden.

Diese im Verhältnis zur Themenbreite unproportionale Zuspitzung auf ein Thema (Kommunionzulassung) hat zu einer Situation und Erwartungshaltung geführt, die in eine Sackgasse führen musste. Denn nun erwartete man je nach Erwartungshaltung eine definitive Entscheidung des Papstes. Erhofften die einen ein klares und affirmatives Nein gegenüber jeder Änderung, erwarteten die anderen ein grundsätzliches Ja ohne weitere Rücksichten. Doch wie realistisch zu erwarten war, musste der Papst beide Erwartungen enttäuschen. Er hat keinen der beiden bereitgestellten Knöpfe gedrückt, sondern einen ganz anderen, aber durchaus erwartbaren Weg gewählt. Tertium datur. In Amoris laetitia hat er vielmehr eine wichtige spirituelle, individualethische und pastorale Kategorie ins Spiel gebracht, die nicht mit einem päpstlichem Knopfdruck zu erledigen ist, wie ein Pius XI. mit einem Knopfdruck 1931 Radio Vaticana einweihen konnte.

Es handelt sich um die Kategorie der persönlichen und pastoralen „Unterscheidung“ (ital. discernimento), die wie ein roter Faden den Text des Apostolischen Schreibens durchzieht, aber auch schon im Schlussbericht der Bischofssynode von 2015 zu finden ist (Relatio finalis Nr. 3, 35, 47, 51–54, 57, 69, 75, 84–86). Die Kategorie der Unterscheidung gilt als „Schlüsselwort“ (parola chiave)10 des Schreibens, an dessen Beginn schon der Papst sehr deutlich seine Intention benennt: „Danach geht es mir darum, zur Barmherzigkeit und zur pastoralen Unterscheidung einzuladen, angesichts von Situationen, die nicht gänzlich dem entsprechen, was der Herr uns aufträgt“ (AL 6). Es ist erstaunlich, wie man sich in der heftigen Diskussion um AL derart in der binären Logik verheddern konnte, dass die ausdrückliche Intention des Autors ebenso übersehen wurde wie die oftmalige Erwähnung der Unterscheidung. Eine Soziologie des Kampfes um die Deutehoheit von AL macht deutlich, wie die Auseinandersetzung auf einem Auge blind machen kann, sodass man allenthalben lehrmäßige Unklarheit, Mehrdeutigkeit, Uneinheitlichkeit sieht, aber über die doktrinelle Wahrnehmung der normativen Texte hinaus nicht die Kontexte der konkreten Situationen zu sehen vermag.11 Eines liegt mithin auf der Hand: Das päpstliche Schreiben will eine gewisse Systemstarre zugunsten einer Dynamik der Unterscheidung überwinden; denn im Glauben, „dass alles weiß oder schwarz ist, versperren wir manchmal den Weg der Gnade und des Wachstums“ (AL 305). Mit der päpstlichen Entscheidung, auf „Unterscheidung“ zu setzen, um deren hermeneutisches Potential freizusetzen, beginnt freilich erst die mühevolle ethische und pastorale Anstrengung, die Kunst der Unterscheidung in ihren kognitiven, spirituellen und psychologischen Dimensionen neu zu erlernen und ins eigene Repertoire zu übernehmen. Dass dieser Weg einer „Kontextualisierung“ des „Textes“ die gewissenhafte Verantwortung und Unterscheidung des Subjekts in seiner Situation an die Seite des Fühlens mit der Kirche, des Hörens auf das Wort Gottes und die Beachtung der kirchlichen Lehrtradition stellt, leuchtet dann ebenso ein wie die Tatsache, dass es dafür einen lange Atem brauchen wird.

Wenn man nun den Text von AL auf den Gebrauch von „Unterscheidung“ in der nominalen und der entsprechenden verbalen Form „unterscheiden“ hin untersucht (discernimento, discernere), wird man auf fast fünfzig Zusammenhänge stoßen, kann also bei sorgfältiger Lektüre die Bedeutung des Terminus nicht übersehen. Diese kommt auch darin zum Ausdruck, dass einerseits zahlreiche pastoral betroffene Personen wie Bischöfe, Pfarrer, Priester, Hirten, aber auch existentiell betroffene Personen, wie Ehepaare oder Familien als Subjekte genannt werden. Überdies kommen zahlreiche Felder zur Sprache, in denen Unterscheidungsprozesse vonstatten gehen können, wie zum Beispiel auf dem Feld der Erziehung, wo es gilt, die Botschaften der Kommunikationsmittel oder die Denkweisen in der digitalen Medienwelt zu unterscheiden (vgl. AL 274f).

Doch das bei weitem meistgenannte Feld sind die schwierigen oder komplexen „Situationen“, die einer persönlichen und pastoralen Unterscheidung bedürfen. Sie häufen sich vor allem im berühmten achten Kapitel (Nr. 291–312) unter der Überschrift „Die Zerbrechlichkeit begleiten, unterscheiden und eingliedern“. An dessen Anfang stehen die zwei Metaphern des Leuchtturms und der Fackel, als Trost für diejenigen, die unter „verletzter und verlorener Liebe leiden“, sowie das oft erwähnte Bild des Feldlazaretts (AL 291). Zu dieser Metapher dürfte Alessandro Manzonis Roman Die Brautleute (I promessi sposi) angeregt haben, denn im Pestlazarett, also am Ort des Leidens, verbindet der Kapuziner die Wunden, begegnet sich auch das durch lange Trennung leidende Liebespaar Renzo und Lucia wieder; ein Bild für die Sorge der Kirche.12

Angesichts der unzähligen Unterschiede konkreter Situationen gibt der Papst zu verstehen, „dass man von der Synode oder diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte. Es ist nur möglich eine neue Ermutigung auszudrücken zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der je spezifischen Fälle“ (AL 300). In solchen Unterscheidungsprozesse komplexer sittlicher Art, in denen es darum geht, im forum internum, also nicht in der Öffentlichkeit, zu einer sittlichen Entscheidung coram Deo zu gelangen, plädiert AL dafür, „das Gewissen der Menschen besser in den Umgang der Kirche mit manchen Situationen“ einzubeziehen, welche die kirchliche Eheauffassung nicht verwirklichen. „Selbstverständlich ist es notwendig, zur Reifung eines aufgeklärten, gebildeten und von der verantwortlichen und ernsten Unterscheidung des Hirten begleiteten Gewissens zu ermutigen und zu einem immer größeren Vertrauen auf die Gnade anzuregen.“ (AL 303). Über die Integration des Gewissens in die Unterscheidung hinaus fordert der Papst in AL auch die Rezeption der thomanischen Unterscheidung von allgemeiner Norm und spezifischer Situation, da eine allgemeine Norm nicht alle Sondersituationen ausformulieren könne (AL 304).13 Ein rein deduktiver Weg ist damit ausgeschlossen und eine Vermittlung durch die praktische Vernunft erforderlich, sodass nach AL im Unterscheidungsprozess Vernunft, Verantwortung und Gewissen anteilig zum Tragen kommen.

Zu den auf den beiden Familiensynoden von 2014 und 2015 meist diskutierten und zitierten Texten gehört wohl eine Aussage zur Unterscheidung in der postsynodalen Enzyklika Familiaris consortio (1981) Johannes Pauls II. Dort heißt es: „Die Hirten mögen beherzigen, dass sie um der Liebe willen zur Wahrheit verpflichtet sind, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden. Es ist ein Unterschied, ob jemand trotz aufrichtigen Bemühens, die frühere Ehe zu retten, völlig zu Unrecht verlassen wurde oder ob jemand eine kirchlich gültige Ehe durch eigene schwere Schuld zerstört.“ (Nr. 84).14 Hier werden exemplarisch verschiedene Situationen mit unterschiedlicher Verantwortung aufgerufen, und die Unterscheidung wird den Hirten zur Wahrheitspflicht gemacht. Allerdings folgt aus dieser Unterscheidung keine unterschiedliche Bewertung und Behandlung sehr unterschiedlicher Situationen; sie werden vielmehr über einen allgemeinen Kamm geschoren, was moraltheologisch entsprechend bemängelt wurde.15 Denn an derselben Stelle wird die Gleichbehandlung auch unterschiedlicher Situationen urgiert.

Darauf bezog sich ausdrücklich die Relatio finalis Nr. 85 der Synode von 2015, zog allerdings andere Konsequenzen; es sei auch bei Aufrechterhaltung der allgemeinen Norm anzuerkennen, „dass die Verantwortung hinsichtlich bestimmter Handlungen oder Entscheidungen nicht in allen Fällen gleich“ sei. Schließlich bezieht sich auch Amoris laetitia auf die Schlüsselaussage in Familiaris consortio (Nr. 84), ohne freilich deren Forderung nach Gleichbehandlung in jedem Fall zu wiederholen. Im Gegenteil werden mit Argumenten aus Gaudium et spes (Nr. 51) die Gefahren betont, die aus einer Forderung an die Eheleute resultieren, wie Bruder und Schwester zu leben (AL 298). Durch eine persönliche und pastorale Unterscheidung können also komplexe Situationen dieser und anderer Art differenziert und personal angemessen entschieden werden.

3. Die ignatianischen Quellen der Unterscheidung


Unterscheiden ist eine basale Tätigkeit, die sowohl auf differenzierte Wahrnehmung von Dingen und Ereignissen (διακρίνειν, discernere) als auch auf Differenzierung denkerischer Sachverhalte und Bedeutungen (distinguere) zielt. In das weite semantische Spektrum der Bedeutungen gehört an hervorragender Stelle die spirituelle Unterscheidung (der Geister).

Die spirituelle Unterscheidung hat im Christentum eine lange Geschichte, die hier nicht aufgerollt, aber wenigstens angedeutet werden kann. Neutestamentlich ist bei den Synoptikern auf die Perikope von der Versuchung Jesu zu verweisen, der „vom Geist in die Wüste“ geführt wurde und dort in verschiedenen Situationen zu unterscheiden und zu entscheiden hatte (Mt 4, 1–11). In der Charismenlehre des Paulus findet sich erstmals der Terminus, „die Geister zu unterscheiden (διακρίσεις)“ (1 Kor 12, 10). In der Alten Kirche spielt die Unterscheidung der Geister eine besondere Rolle, sowohl im Osten (zum Beispiel Hirt des Hermas, Origenes) als auch im Westen (etwa Cassian oder Gregor der Große). Das Mittelalter kennt eine intensive Befassung mit der discretio spirituum, also der Unterscheidung der guten und bösen Bewegungen (etwa bei Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin, Katharina von Siena, Thomas von Kempis). In der Neuzeit ist sicher Ignatius von Loyola zur prägenden Gestalt auch über seine Lebenszeit hinaus geworden. Er lernte die Unterscheidung der Geister durch geistliche Erfahrung kennen, systematisierte sie in den Geistlichen Übungen, den Exercitia spiritualia, und machte sie damit für die gesamte Kirche zugänglich. Daher ist hier das ignatianische Verständnis und seine nachhaltige Wirkung bis in die Gegenwart zu entfalten.16

Verfolgen wir den Weg des hl. Ignatius (1491–1556) in die Erfahrung der „Unterscheidung der Geister“, wie er ihn in seinem autobiographischen Bericht des Pilgers17 beschreibt. Iñigo, so sein ursprünglicher Name, hatte eine höfische Erziehung erhalten und sich als junger Offizier bei der Verteidigung Pamplonas (1521) eine schwere Verwundung zugezogen, die ihn aufs Krankenlager zwang. Während der Rekonvaleszenz wollte er Ritterromane wie den Amadís de Gaula lesen, war aber auf geistliche Lektüre wie die Legenda Aurea, Heiligenlegenden des Jacobus a Voragine, angewiesen.

Hin und her gerissen zwischen Tagträumereien von Helden- und Heiligentaten, fand er einen Unterschied zwischen beiden Erfahrungen heraus, die er so beschreibt. „Es gab jedoch diesen Unterschied (diferencia): Wenn er an das von der Welt dachte, vergnügte er sich sehr. Doch wenn er dann aus Ermüdung davon abließ, fand er sich trocken und unzufrieden. Und wenn er daran dachte, barfuß nach Jerusalem zu gehen und nur Kräuter zu essen und alle übrigen Strengheiten auszuführen, von denen er las, dass die Heiligen sie ausgeführt hatten, war er nicht nur getröstet, während er bei diesen Gedanken war, sondern blieb auch, nachdem er davon abgelassen hatte, zufrieden und froh. […] Bis er durch Erfahrung (por experiencia) erfaßte, dass er von den einen Gedanken traurig blieb und von den anderen froh. […] Dies war die erste Überlegung (discurso), die er in den Dingen Gottes anstellte“ (BP Nr. 8).

Das war der biographische Anfang der Unterscheidung der Geister: Welche inneren Bewegungen machen froh und getröstet, und welche machen traurig, missgestimmt und trostlos? Bei der Abwägung der verschiedenen Gefühle, Gedanken, innere Bewegungen begann Iñigo Rückschlüsse aus dem Wechselspiel der vielfältigen mociones zu ziehen, welcher Geist ihn gerade bewegte.

Auf dem Hintergrund der literarischen Vorgaben seiner Zeit (wie Bernhard von Clairvaux, Thomas von Kempis, Johannes Gerson) systematisierte Ignatius diese Methode der Unterscheidung in seinem Exerzitienbuch,18 um seine eigenen Erfahrungen weiterzugeben und anderen auf dem geistlichen Weg zu helfen. Dies tat er schon, als er noch in Alcalá, Salamanca und Paris als Laie studierte. Doch die neue Methode brachte ihn mehrfach mit der Inquisition in Konflikt und ins Gefängnis; dahinter stand der Verdacht, er sei ein häretischer Alumbrado, auch wenn alle Verfahren ohne Urteil im Sande verliefen.

Die eigenen und pastoralen Erfahrungen finden ihren Niederschlag in zwei Serien von 14 und 8 Regeln über die „Unterscheidung der Geister“ (EB 313–327 und 328–336), welche die autobiographischen Erfahrungen widerspiegeln. Demnach ist es „dem bösen Geist eigen, zu beißen, traurig zu stimmen, Hindernisse zu legen, indem er mit falschen Gründen beunruhigt, damit man nicht weiter vorrücke. Und dem guten Geist ist es eigen, Mut und Kraft, Tränen, Tröstungen, Einsprechungen und Ruhe zu geben, indem er alle Hindernisse weghebt, damit man im Tun des Guten weiter voranschreite“ (EB 315). Das Kriterium der Unterscheidung liegt also im Unterschied von ambivalenten inneren „Bewegungen“ (mociones), die er geistlichen Trost (consolación) oder Trostlosigkeit (desolación) nennt.19

So definiert er einerseits: „Ich rede vom Trost, wenn in der Seele eine innere Bewegung sich verursacht, bei welcher die Seele zu ihrem Schöpfer und Herrn zu entbrennen beginnt“. Trost nennt er auch Tränen aus Liebe sowie „jede Zunahme von Glaube, Hoffnung und Liebe, und jede innere Freudigkeit (leticia interna)“ (EB 316). Demgegenüber bestimmt er als Desolation: „Ich nenne Trostlosigkeit alles, was zur dritten Regel [= EB 316] in Gegensatz steht, als da ist: Verfinsterung der Seele, Verwirrung in ihr, Hinneigung zu den niederen und erdhaften Dingen, Unruhe verschiedener Getriebenheiten und Anfechtungen, die zu Mangel an Glaube, an Hoffnung, an Liebe bewegen, wobei sich die Seele ganz träg, lau, traurig findet und wie getrennt von ihrem Schöpfer und Herrn. Denn wie der Trost das Gegenteil der Trostlosigkeit ist, so sind auch die Gedanken (pensamientos), die der Trostlosigkeit entspringen, entgegengesetzt den Gedanken, die aus dem Trost entstehen“ (EB 317).

Gegenstand der Unterscheidung sind die inneren Bewegungen oder Regungen, in denen ein Exerzitand nach dem Willen Gottes für sein Leben sucht, indem er die Bewegungen wahrnimmt, beurteilt und dann je nach den Erfahrungen von Trost oder Misstrost zu einer Annahme dieser oder einer Ablehnung jener Bewegung kommt. Ein Kriterium ist, wie gesagt, die „Zunahme von Hoffnung, Glaube und Liebe“ (EB 316).20 Die inneren Seelenbewegungen bilden ein psychologisch beschreibbares Spektrum von Wahrnehmungen und Empfindungen, Stimmungen und Gefühlen, Gedanken und Wünschen, für die Ignatius ein Arsenal von Metaphern bereithält. Dabei gilt es, diese Bewegungen aufzuspüren (sentir) und zu erkennen (cognoscer), um die guten anzunehmen und die schlechten zu verwerfen (EB 313). Im Schema der Exerzitien ist diese Gruppe von Regeln eher für die „erste Woche“ gedacht, während die zweite Gruppe von Regeln zur Unterscheidung der Geister (discreción de espíritus) eher für die „zweite Woche“ gedacht ist, in der es primär um Entscheidungen einer Lebenswahl geht. Hier wird die Methode verfeinert, weil die Unterscheidung komplexer wird, kann sich das Böse doch auch unter dem Schein des Guten verbergen.

Wenn nun aber die inneren Bewegungen so ambivalent bleiben, gibt es überhaupt eine Gewissheit, dass Gott am Werk ist und nicht eine Selbsttäuschung oder Wunschdenken, zumal die Tiefenpsychologie heute die Mechanismen des Unbewussten genau kennt? Ignatius rät mit psychologischem Gespür zu einer Kombination von Unterscheidung und Entscheidung („Wahl“) und zur Frage nach den Ursachen für den Trost. Dabei findet er empirisch, durch Erfahrung heraus, dass es Tröstungen (innere Freude, Ruhe, Zunahme an Hoffnung, Glaube und Liebe etc.) gibt, ohne dass ihnen gegenständliches Erkennen vorausgeht. Eine solche Erfahrung nennt er Trost „ohne vorausgehenden Grund“ (sin causa precedente), den nur Gott gewähren könne, weil es dem Schöpfer vorbehalten sei, eine Seele so zu bewegen, „dass er sie ganz in die Liebe zu seiner göttlichen Majestät hineinzieht“ (EB 330).21 Eine solche Erfahrung, die bei Ignatius gewiss mystische Qualität besitzt, ist etwa in der ersten der drei Wahlzeiten gegeben, „wenn Gott unser Herr den Willen so bewegt (mueve) und an sich zieht (atrae), dass eine ihm ergebene Seele ohne zu zweifeln oder auch nur zweifeln zu können, dem folgt, was gezeigt wird, wie der heilige Paulus und der heilige Matthäus taten, als sie Christus unserm Herrn nachfolgten.“ (EB 175). Außer dieser ersten Wahlzeit, die keine Ambivalenz, sondern nur Evidenz kennt, gibt es eine zweite Wahlzeit, in der typischerweise Unterscheidungsprozesse anstehen, zum Beispiel Grundentscheidungen für das Leben, aber auch kleinere Entscheidungen, wie die Frage des Lebensstils (EB 176). Eine dritte Wahlzeit schließlich ist eine ruhige Zeit, da nicht dramatische innere Bewegungen zu unterscheiden sind, sondern mit den Mitteln der Vernunft frei und rational Für und Wider abgewogen werden. Meist geht es um eine Kombination von zweiter und dritter Wahlzeit, wenn die Evidenz der ersten Wahlzeit sich nicht einstellt.

Eine Synthese dessen, was unter einer ignatianischen Unterscheidung der Geister heute zu verstehen ist, lässt sich folgendermaßen bestimmen: „Unterscheidung der Geister ist ein Klärungsprozess, in dem ein Mensch aus einer persönlichen Vertrautheit mit Christus heraus die von ihm erlebten inneren und äußeren Bewegungen und Antriebe daraufhin überprüft, ob sie mehr zu Gott führen oder eher von ihm weg, um so zur Entscheidung fähig zu werden, welchen Weg er vor Gott gehen soll.“22 Diese Formel aus der Hand eines erfahrenen geistlichen Begleiters betont die Prozesshaftigkeit der Unterscheidung, den Prüfungscharakter, die Bedeutung äußerer Situation und innerer Bewegungen und als conditio sine qua non die Christusbeziehung, wobei als aufeinander bezogene Pole die dreifache Aufmerksamkeit auf die äußeren Ereignisse, die inneren Bewegungen und das Geheimnis Gottes betont werden. Die hier genannten Elemente gelten nicht nur für Exerzitien im engeren Sinn, sondern auch für persönliche und pastorale Unterscheidungsprozesse, die auf zahlreichen anderen Feldern möglich sind, um Handeln und Entscheiden durch spirituell, theologisch und ethisch begründetes Unterscheiden voranzubringen. Eines dieser Felder bilden sicher die komplexen Ehefragen und schwierigen Familienkonstellationen, die angemessener Lösungen bedürfen. Denn die drei genannten Aufmerksamkeiten sind ebenso bedeutsam wie die in der Definition genannten Einzelelemente.

4. Die Kunst des Unterscheidens


Der ignatianische Weg der Unterscheidung hat seit Erscheinen des Exerzitienbuchs im Druck (anonym 1548) in der Kirche zu einer breiten Praxis der Geistlichen Übungen geführt, einem streng geregelten Prozess existentieller Entscheidungsfindung vor Gott. Zunächst auf die katholischen Eliten beschränkt, sind diese Übungen der Unterscheidung ökumenisch rezipiert worden. Aber auch in anderen religiös, ethisch und existentiell relevanten Handlungsfeldern haben sie Platz gegriffen. Nicht zuletzt sind im 20. Jahrhundert über die praktischen Kommentare zu den Exerzitien hinaus auch beachtliche Versuche einer theologischen Durchdringung unternommen worden.23

Zum vierhundersten Todestag des Ignatius von Loyola veröffentlichte Karl Rahner einen epochalen Beitrag über „Die ignatianische Logik der existentiellen Erkenntnis“, der sich mit Unterscheidung, Wahl und Trost befasst. Folgt die Suche nach dem Willen Gottes einer Anwendungslogik der Prinzipien in der individuellen und pastoralen Praxis oder ist diese Praxis durch die Geistesgegenwart selbst ein Ort existentieller Erkenntnis? So fragt er am Ende seiner komplexen Überlegungen, ob die Theologie genügend gerüstet sei, die Vollzüge der Exerzitien zu deuten, um dann zu antworten, „es fehle noch viel, bis die Theologie wirklich reflex diese Logik der Findung des Willens Gottes eingeholt hat, die nicht die Logik einer deduktiven Prinzipienmoral ist [so sehr auch eine solche notwendig ist und in den Exerzitien vorausgesetzt ist], sondern eine Logik der konkreten Erkenntnis, die sich nur im Vollzug der Sache selbst erreichen lässt, einer konkreten Erkenntnis, die in diesem Fall die des konkreten, an den Einzelnen als solchen gerichteten Willens Gottes ist. Wird man nicht sagen können, dass Ignatius in den Exerzitien Zeilen geschrieben hat, aus denen noch nicht die nötigen Seiten in den Moraltheologien geworden sind?“24

Im zeitlichen Abstand von sechs Jahrzehnten wird man diese Frage nicht rundweg positiv beantworten können. Wohl aus diesem Grund hat Papst Franziskus die ihm geläufige Bedeutung der persönlichen und pastoralen Unterscheidung in den Bischofssynoden zu Ehe und Familie ins Blickfeld gerückt und in seinem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia zu einer Leitkategorie gemacht, die freilich moraltheologisch und pastoraltheologisch noch einer starken Rezeption bedarf. Als Kunst der Unterscheidung wird sie nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch praktisch eingeübt werden müssen.

Die ignatianische Unterscheidung der Geister hat für die Frage von Lebensentscheidungen im Rahmen der Exerzitien große Dienste geleistet. Jetzt ist sie dabei, durch die Ausdehnung einer solchen Unterscheidung auf Fragen von Ehe und Familie neue Dienste zu leisten. Doch darüber hinaus hat sich gezeigt, wie fruchtbar diese Kategorie auch in weiteren Feldern entfaltet wurde und noch weiter entfaltet werden könnte.

Dafür gibt Papst Franziskus einige Hinweise aus seiner eigenen Lebenspraxis und seinem Leitungsstil sowie für pastorale Felder. Im ersten großen Interview, das er im Jahr seines Amtsantritts (September 2013) der römischen Zeitschrift La Civiltà Cattolica gab, bezeichnete er die Unterscheidung als den Punkt der ignatianischen Spiritualität, der ihm in seinem Amt am meisten helfe. Er illustriert dies zum einen an der berühmten Maxime „Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo, divinum est“ (Nicht begrenzt werden vom Größten und doch einbeschlossen sein vom Kleinsten, das ist göttlich). In dieser literarischen Grabeloge auf Ignatius in einem flandrischen Prachtband (Imago primi saeculi Societatis Iesu, 1640), die Friedrich Hölderlin seinem Briefroman „Hyperion“ als Motto voranstellte, sieht Franziskus die Parameter, „um eine korrekte Haltung für die Unterscheidung einzunehmen, um die Dinge Gottes von seinem ‚Gesichtspunkt’ her zu sehen. Für den heiligen Ignatius müssen die großen Prinzipien in den Umständen von Raum, Zeit und Person verkörpert sein“.25 Außer diesem Prinzip der Dialektik von Großem und Kleinem benennt Franziskus als weiteres, dass die Unterscheidung immer in Gegenwart des Herrn erfolgen müsse und Zeit brauche. „Viele meinen zum Beispiel, dass Veränderungen und Reformen kurzfristig erfolgen können. Ich glaube, dass man immer genügend Zeit braucht, um die Grundlagen für eine echte, wirksame Veränderung zu legen. Und das ist die Zeit der Unterscheidung. […] Meine Entscheidungen, auch jene, die mit dem normalen Alltagsleben zu tun haben, wie die Benutzung eines einfachen Autos, sind an eine geistliche Unterscheidung gebunden, die auf ein Erfordernis antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der Zeit entsteht. Die Unterscheidung im Herrn leitet mich in meiner Weise des Führens“ (S. 33).

Auch in seinem ersten Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) kommt Papst Franziskus auf Situationen der Unterscheidung zu sprechen. Bei der missionarischen Umgestaltung der Kirche heißt es: „Jeder Christ und jede Gemeinschaft soll unterscheiden, welches der Weg ist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir aufgefordert, diesen Ruf anzunehmen“ (EG 20). Was die Rolle der Teilkirchen bei der kirchlichen Erneuerung angeht, fordert er diese auf, „in einen entschiedenen Prozess der Unterscheidung, der Läuterung und der Reform einzutreten“ (EG 30). Auch betont er, dass über eine detaillierte Analyse der Wirklichkeit hinaus sein Schreiben „in Richtung einer Unterscheidung anhand des Evangeliums“ gehe (EG 50). Dabei betont er, dass „Gott die Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt des Glaubens – dem sensus fidei – [begabt], der ihnen hilft, das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt“ (EG 119). An diesen Beispielen wird deutlich, wie die ignatianische Unterscheidung sein eigenes Verhalten prägt und wie er darauf drängt, diese Kategorie ins Leben der Kirche und ihrer Reformbemühungen zu implementieren.

Die Kategorie der Unterscheidung war, wenn auch nicht in dieser Intensität, schon auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wenigstens anfanghaft im Bewusstsein. Hält doch die Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute im ersten Hauptteil mit pneumatologischem Zungenschlag die Bedeutung der Unterscheidung fest: „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen (in eventibus, exigentiis atque optatis), die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden (discernere), was darin wahre Zeichen (vera signa) der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind“ (GS 11). In der Tat sind Ereignisse Bedürfnisse und Wünsche aller Menschen, nicht nur der Christen, aus ignatianischer Sicht ambivalent und bedürfen eines hermeneutischen Verfahrens der Unterscheidung, in dem die „vera signa“ der Gottespräsenz erst durch den „Geist des Herrn“ authentifiziert werden.

Die Methode der Unterscheidung der Geister erfuhr im 20. Jahrhundert im Rückgriff auf die Frühzeit der Gesellschaft Jesu eine Erweiterung, insofern unter dem Eindruck des Konzils die beiden Generaloberen des Ordens, Pedro Arrupe und Peter-Hans Kolvenbach, eine apostolische Unterscheidung in Gemeinschaft empfahlen.26 Hierbei geht es um gemeinsame Unterscheidungs-, Beratungs- und Entscheidungsprozesse, die eine kleinere oder größere Gruppe hinsichtlich bestimmter Gegenstände unternimmt; diese können zum Beispiel die Grundausrichtung der Gruppe oder Handlungsoptionen betreffen. Dabei handelt es sich nicht um ein bloß rationales decision-making, sondern eine Unterscheidung im spirituellen Rahmen, die auch auf die inneren Bewegungen achtet. Diskutiert wird auch die Frage, ob dieses partizipative Verfahren in den Kontext sozialen Lernens in kirchlichen Gruppen übersetzt werden kann.

Die ignatianische Unterscheidung der Geister und Rahners Existentialethik haben auch zur Frage angeregt, wie eine Transformation in einen sozialethischen Kontext aussehen könnte. Daher nimmt sich Marianne Heimbach-Steins vor, die Unterscheidung der Geister „als hermeneutischen Prozess [zu erschließen], in dem das zum Handeln aufgerufene Subjekt den Herausforderungscharakter einer konkreten Situation mit dem Sinnhorizont, auf den es sich deutend bezieht, so vermittelt, dass im Spannungsfeld dieser drei Pole eine Entscheidung möglich wird und eine Handlungsoption verbindlich ergriffen werden kann.“27

Schließlich macht Manuel Ruiz Jurado in seinem Standardwerk über die geistliche Unterscheidung auf eine Vielzahl von praktischen Möglichkeiten einer „angewandten Unterscheidung“ aufmerksam.28 Hierzu zählen als Gegenstände zum Beispiel die Interpretation der „Zeichen der Zeit“, jene Metapher, die in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils auftauchte (Gaudium et spes 4 und 11), nachdem Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in terris (1963) auf gegenwärtige Zeichen (Aufstieg der Arbeiterklasse, Teilnahme der Frau am öffentlichen Leben, neue Gestalt der Menschheitsfamilie) aufmerksam gemacht hatte. Weitere Gegenstände sind die verschiedenen Gruppen und kirchlichen Bewegungen sowie die charismatischen Phänomene der Zeit; der „wahrhaft kirchliche Sinn“; die Berufung und die geistliche Begleitung; die klassische Unterscheidung der Inspirationen und inneren Bewegungen im Sinn der ignatianischen Regeln. Auch die erwähnte gemeinsame Unterscheidung zählt er dazu. Schließlich weitet sich die Frage nach einer spirituellen Unterscheidung auch ökumenisch auf Christen aus, die auf diesem Weg suchen,29 zumal Themen dieser Art im Bereich von Lebenskunst und Lebenshilfe zu finden sind; dort ist freilich für solche Angebote selbst inzwischen eine Unterscheidung erforderlich.

Verweisen die zahlreichen Hinweise auf die Breite des Interesses an Feldern der Unterscheidung, so geht es Amoris laetitia um die Vertiefung des Themas einer persönlichen und pastoralen Unterscheidung im Feld von Ehe und Familie. Hier dürfte Papst Franziskus einen bleibenden Impuls für die Weltkirche gegeben haben, der gewiss eine lange Phase der Wiederaneignung benötigen wird. Wenn dabei in Umrissen eine „Beziehungsethik“30 entsteht, die durch Unterscheidung in eine tragfähige Gottesbeziehung eingebettet wird, dann wäre ein großer Schritt getan. Die Kunst der Unterscheidung der Geister ist zwar seit biblischen Zeiten bekannt, doch musste sie jeweils neu erlernt und eingeübt werden. Nun ist es an der Zeit, diese spirituelle Kunst in säkularen Zeiten interkulturell neu zu erlernen und zu gestalten. Das gilt insbesondere für Ehevorbereitung und die Ehe- und Familienpastoral, bei der Personen in Beziehung gewissenhaft Verantwortung füreinander und für Kinder übernehmen und so der „Menschheitsfamilie“, um eine Metapher des Konzils (GS 24, 42) zu gebrauchen, die Fackel vorantragen.





1 | Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik eine Antwort ist, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 117-146, hier 117
2 | Papst Franziskus, Die Freude der Liebe. Das Apostolische Schreiben Amoris laetitia über die Liebe in der Familie, Ostfildern 2016 (= AL).
3 | Hans Waldenfels, Kontextuelle Fundamentaltheologie, 4. Aufl., Paderborn 2005,025
4 | Vgl. Lorenzo Baldisseri (ed.), Le sfide pastorali sulla famiglia nel contesto dell’evangelizzazione. III Assemblea Generale Straordinaria del Sinodo dei Vescovi, Città del Vaticano 2015; (Abschlussbericht [Relatio Synodi] 325-354).
5 | Vgl. Christoph Schönborn (Hg.), Berufung und Sendung der Familie. Die zentralen Texte der Bischofssynode, mit einem Kommentar von Michael Sievernich, Freiburg i. Br. 2015; (Abschlussbericht [Relatio finalis] 109-206.
6 | Vgl. Walter Kasper, „Amoris laetitia“. Bruch oder Aufbruch?, in StdZ 141 (2016) 723-732
7 | Johannes XXIII., Allocutio Gaudet mater ecclesia, in: AAS 54 (1962) 786-795: dt. HerKorr 17 (1962)
8 | John W. O’Malley, What happened at Vatican II? Cambridge MA/London 2006; vgl. dazu auch Michael Sievernich, Die „Pastoralität“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Ders./Mariano Delgado (Hg.), Die großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihre Bedeutung für heute, Freiburg im Br. 2013, 35-58
9 | Vgl. zum Beispiel: SZ vom 19. Okt. 2015, FAZ, NZZ, Münchener Merku vom 20. Okt., Rheinische Post vom 21. Okt., Die Zeit vom 22. Okt.
10 | Antonio Spadaro/Louis J. Cameli, La sfida del discernimento en „Amoris laetitia“, in: Civiltà Cattolica 167 (2016), H. 3985, 3-16
11 | Vgl. Michael N. Ebertz, Der Kampf um Amoris laetitia – im soziologischen Blick, in: Burkard Dominik, Die christliche Ehe – erstrebt, erlebt, erledigt? Fragen und Beiträge zur aktuellen Diskussion im Katholizismus (Würzburger Theologie 15), Würzburg 2016, 385-414
12 | Vgl. Michael Sievernich (Hg.), Papst Franziskus. Texte, die ihn prägten, Darmstadt 2015, 187f.
13 | Zur Rolle des Thomas von Aquin in AL vgl. Eberhard Schockenhoff, Theologischer Paradigmenwechsel und neue pastorale Spielräume, in: Lebendige Seelsorge 67 (2016) 240-246.
14 | Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute (Verlautbarungen des Apost. Stuhls 33), Bonn 1981, Nr. 84
15| Vgl. Eberhard Schockenhoff, Chancen zur Versöhnung? Die Kirche und die wiederverheiraten Geschiedenen, Freiburg i. Br. 2011, 19f.
16 | Vgl. zum Überblick: Discernement des esprits, in: Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 3, Paris 1957, Sp. 1222-1291; eine Sammlung klassischer Texte bietet: Marianne Schlosser (Hg.), Die Gabe der Unterscheidung, Texte aus zwei Jahrtausenden, Würzburg 2008.
17 | Ignatius von Loyola, Bericht des Pilgers, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Michael Sievernich, Wiesbaden 2006 [=BP].
18 | Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von Hans Urs von Balthasar, fünfte Aufl., Einsiedeln 1965 (=EB); span. Ejercicios espirituales, in: Ignacio de Loyola, Obras completas, ed. manual Ignacio Iparraguirre, Madrid 1968,161-273.
19 | Zum Verständnis der Unterscheidungsregeln vgl. Michael J. Buckley, Art. Discernimiento, in: Diccionario de espiritualidad ignaciana, dir. José García Castro, Bilbao/Santander 2007, 607-611; Leo Bakker, Freiheit und Erfahrung. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen über die Unterscheidung der Geister bei Ignatius von Loyola, Würzburg 1970.
20 | Vgl. Hans Zollner, Trost – Zunahme an Hoffnung, Glaube und Liebe. Zum theologischen Ferment der ignatianischen „Unterscheidung der Geister“ (IThS 68), Innsbruck/Wien 2014.
21 | Zu den Problemen des Aufspürens der „Bewegungen“, der Überreflexivität und der Irrationalität vgl. Albert Keller, Vom guten Handeln. In Freiheit die Geister unterscheiden, Würzburg 2010, 59-79.
22 | Franz Meures, Was heißt Unterscheidung der Geister?, in: Ordenskorrespondenz 31 (1990) 272-291.
23 | Vgl. Michael Schneider, „Unterscheidung der Geister“. Die ignatianischen Exerzitien in der Deutung von E. Przywara, K. Rahner und G. Fessard (IThS 11), Innsbruck/Wien 1983.
24 | Karl Rahner, Die ignatianische Logik der existentiellen Erkenntnis. Über einige theologische Probleme in den Wahlregeln der Exerzitien des heiligen Ignatius, in: Friedrich Wulf (Hg.), Ignatius von Loyola. Seine geistliche Gestalt und sein Vermächtnis (1556-1956), Würzburg 1956, 343-405, hier 405.
25 | Antonio Spadaro, Das Interview mit Papst Franziskus, hg. von Andreas Batlogg, Freiburg i. Br. 2013, 32 (folg. Zitat 33).
26 | Vgl. Friedhelm Hengsbach, Apostolische Unterscheidung in Gemeinschaft – eine Inspiration für die katholischen Sozialverbände?, in: Michael Sievernich/Günter Switek (Hg.), Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, Freiburg i. Br. 1990, 569-596.
27 | Marianne Heimbach-Steins, Unterscheidung der Geister – Strukturmoment christlicher Sozialethik. Dargestellt am Werk Madeleine Delbrêls (Schriften des Instituts für christliche Sozialwissenschaften 31), Münster 1994, hier 233.

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